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Programmheftkunst

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www.beckmesser.de 2011/05
Publikationsdatum
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Was ist die Aufgabe eines Programmhefts? Es soll informieren über die gespielten Werke und ihre Komponisten. Aber das ist offensichtlich noch nicht alles, denn sonst würden ein paar Seiten eng bedruckter, links oben zusammengehefteter Seiten im A4-Format genügen. Der Konzert- oder Theaterbesucher möchte eine ansprechend gestaltete Broschüre in Händen halten, deren Lektüre Lust auf mehr macht. Was aussieht wie das Kleingedruckte in einem Kaufvertrag, landet schnell einmal im Papierkorb.

Als vor 30 Jahren der Computersatz im Druckgewerbe aufkam, standen mit der neuen Layout-Software plötzlich unzählige Schrifttypen und Gestaltungselemente zur Verfügung. Über Nacht explodierte die Kreativität, und die eiserne Regel der Buchgrafik, dass das Schriftbild der guten Lesbarkeit und damit dem Textverständnis dienen soll, galt plötzlich nichts mehr. Der entfesselte Spieltrieb der Grafiker vom Profi bis zum Laien gebar den neuen Stil des Computerbarock. Für die Texte wählte man die ausgefallensten Schrifttypen, und für den Satzspiegel galt die Regel: je schräger, desto besser. Zu guter Letzt wurde das Ganze mit allerlei Computergrafiken, Blümchenarrangements und schrillen Farben unterlegt. Warum, war egal. Hauptsache, es sah irgendwie progressiv aus. Doch im grafischen Overkill ging der Textinhalt verloren.

Von solchen Exzessen ist die Buch- und Drucksachengrafik heute zum Glück weitgehend geheilt. Man braucht keine Lesehilfe mehr, um die Texte zu entziffern. Auch die Konzertprogramme, die früher als vermeintlich künstlerische Produkte zur Spielwiese für überbordende grafische Fantasie umfunktioniert wurden, lassen sich wieder ohne Augenflimmern lesen. Die Grafik hat wieder die Funktion, die ihr zukommt: den Informationsgehalt des Textes zu verdeutlichen und bestenfalls auch subtil zu kommentieren. In besonders gelungenen Fällen steigert sich das zu einem neuen, künstlerisch gestalteten Gesamtbild, wobei die grafische Kunst gerade darin besteht, nicht aufzufallen und trotzdem die Wahrnehmung der Inhalte entscheidend zu steuern.

Das ist zum Beispiel der Fall beim gerade erschienenen Vorprogramm zu einem Musikfestival vom nächsten September. Schon die beiden ungewöhnlich schönen Porträtfotos auf den Umschlagseiten stimmen den Betrachter ganz wundersam ein, und er verspürt eine spontane Neugierde, in die Geheimnisse einzutauchen, die er im Inneren der handlichen Broschüre vermutet.

Da wartet denn auch eine Überraschung. Nach dem Innentitel wird man von einer längeren, locker gesetzten Passage aus „Ulysses“ von James Joyce in Empfang genommen, in dem drei Worte diskret hervorgehoben sind: „Rhapsodien von Liszt.“ Umblättern, dann ein Foto von einigen Zirkusmusikanten mit Blechinstrumenten. Tschingdarassabum, es geht los! Nach den obligatorischen Grußworten folgt nochmals eine Überraschung: Eine abs­trakte Federzeichnung, erstaunlicherweise aus der Hand Van Goghs. Dann ein Mix von Bild und Text mit dem eigentlichen Programminhalt, im strengen Rhythmus komponiert: links ein Bild, rechts das Abendprogramm, auf der folgenden Doppelseite zusätzliche Informationen. So geht das durchs ganze Heft, wobei die Feinabstimmung zwischen Illustration und Programminhalt jedesmal für ein neues Aha-Erlebnis sorgt.

Aber auch die Textauswahl hat es in sich. Anstelle der üblichen Werbetexte zu Komponisten und Interpreten und gut gemeinter, aber langweiliger Erklärungen zu den Stücken liest man Textfragmente von Aischylos über Baudelaire bis Thomas Mann und Paul Klee. Jedes wirft auf seine Weise ein Licht auf die gespielten Werke. Ergänzt werden sie durch Primärtexte der Komponisten. So kommt ein kleines literarisch-musikalisches Brevier zustande, das mit seiner erlesenen Auswahl an Texten und Bildern das Hauptmerkmal eines erstklassigen Kochbuchs besitzt: In Erwartung des Kommenden läuft einem schon beim Lesen das Wasser im Munde zusammen.

Das Kommende ist in diesem Fall das von Festivalleiter Winrich Hopp konzipierte Gesamtprogramm des Musikfests Berlin mit den Schwerpunkten Liszt, Mahler, Nono und Rihm. Es ist ebenso klug komponiert wie das kleine Büchlein, das darauf verweist. So wandelt sich die Lust am Blättern und Schmökern unwillkürlich zur Lust, die Konzerte zu besuchen. Etwas Besseres kann einem Programmheft nicht passieren.

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