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Jimmy Giuffre bei der Aufnahmesession für die LP „Fusion“ mit dem Pianisten Paul Bley und dem damals noch Kontrabass spielenden E-Bassisten Steve Swallow (1961). Foto Herb Snitzer/ECM Records
Jimmy Giuffre bei der Aufnahmesession für die LP „Fusion“ mit dem Pianisten Paul Bley und dem damals noch Kontrabass spielenden E-Bassisten Steve Swallow (1961). Foto Herb Snitzer/ECM Records
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Sprengung der Vertikale

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Zum 100. Geburtstag von Jimmy Giuffre
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Er blies ein „cooles“ Tenorsaxophon, komponierte Third-Stream-Werke für Klarinette und Streicher und befreite den Jazz aus seinen Gefängnissen und Schablonen. Jimmy Giuffre (1921–2008) setzte in den 1950er-Jahren Entwicklungen in Gang, die in Ornette Colemans Free Jazz münden sollten.

Die Revolution kam von der Westküste – und sie kam auf sanften Sohlen. Jimmy Giuffre, der Tenorsaxophonist aus Texas, war nie ein Mann der lauten Töne, weder in der Musik noch im täglichen Leben. „Ich liebe das Ländliche, ich liebe friedliche Stimmungen“, sagte er einmal in einem Interview.

„Ich fürchte immer, jemanden zu verletzen. Ich streite nicht mit anderen, ich bin kein heftiger Mensch.“ Giuffre blieb häufig im Hintergrund, eigentlich wäre er lieber Komponist geworden. Bei Wesley La Violette (1894–1978), der in Chicago und ab 1938 in Los Angeles lehrte, hatte er Kontrapunkt studiert. Und es dauerte fünf Jahre, bis er begriff: Was er da lernte, war auch im Jazz anwendbar – nicht als formale Disziplinierung, sondern als harmonische Befreiung. Giuffre machte sich daran, die üblichen Strophenformen und Akkordwechsel im Jazz durch Kanons und polyphone Improvisation zu ersetzen. Die Lösung vom Harmoniegerüst empfand er als Befreiung aus „vertikalen Gefängnissen“: „Wenn du kontrapunktisch schreibst, denkst du nicht an vertikale Harmonien, aber im Hintergrund hast du die Harmonie der Pedaltöne.“

Zusammen mit dem Trompeter Shorty Rogers und Shelly Manne (Schlagzeug) bildete der Saxophonist die Trias des sogenannten Westcoast-Jazz. Das Lighthouse-Lokal in Hermosa Beach vor den Toren von L.A. war ihr Experimentallabor. Erste größere Erfolge hatten sie als „Shorty Rogers And His Giants“ (1953–1956). Jimmy Giuffre testete seine „linearen“ Ideen damals bei verschiedenen Bandleadern in Kalifornien. Für Shelly Manne schrieb er „Fugue“ und „Alternation“, für Teddy Charles „Evolution“. Das durchkomponierte „Sultana“ nahm er unter eigenem Namen auf und „Pas De Trois“ im unbegleiteten Trio mit Rogers und Manne – diese Instrumentierung war im Jazz von 1954 pure Avantgarde. Und die Befreiungen gingen weiter. „Von einer ständig pochenden Rhythmusgruppe fühle ich mich immer mehr eingeschränkt und frustriert“, sagte Giuffre.

Auf seinem Album „Tangents In Jazz“ (1955) wurde der Beat in keinem Stück mehr durchgängig markiert. Den modalen und den freien Jazz nahm er mit seinen Neuerungen um Jahre vorweg. Giuffres Revolution zielte dabei aber nach innen, ins Intime – „subtle, soft, mellow, deep“, so wollte er klingen. Den nächsten Schritt tat er, als er statt des Tenorsaxophons die leise Klarinette zu seinem Hauptinstrument machte. Allerdings spielte er sie, wie niemand zuvor im Jazz sie gespielt hatte: sehr „cool“, sehr gedämpft, sehr dunkel, wie ein neuartiges Instrument, fast nur im tiefen Register. Am liebsten hörte sich Giuffre an der Klarinette ganz ohne Begleitung. Ein Schlagzeug, selbst ein Klavier schienen ihm daneben zu laut zu sein. Auf dem Album „Clarinet“ (1956) kombinierte er das Instrument mit einer Celesta oder mit Flöten. „Man hat gesagt, wenn der Jazz sanft werde, verliere er seinen Enthusiasmus und seine Funkiness“, meinte Giuffre – er dagegen finde, dass sanfter Jazz „neue Dimensionen von Gefühlen offenbart, die von der Lautstärke eher verborgen werden.“ 

Am bekanntesten wurde Jimmy ­Giuffre mit seinen Trio-Formationen in den späten 1950er-Jahren. Natürlich gab es in diesen Trios kein Schlagzeug und kein Klavier – und bald auch keinen Kontrabass mehr. Alles, was an einen gleichmäßigen Jazzpuls hätte erinnern können, fehlte. Harmoniewechsel wurden auf ein Minimum reduziert. Ein sanftes, modales Country-, Blues- und Folk-Feeling machte sich breit in der Musik, ein Touch von Americana. Das berühmteste Stück aus dieser Zeit heißt „The Train And The River“ (1956) – Giuffre beschrieb es als „blues-based folk-jazz“.

In dem Dreieinhalb-Minuten-Track spielt er nacheinander Baritonsax, Klarinette und Tenorsax. Sein berühmtestes Trio-Album wurde „Western Suite“ – das viersätzige Titelstück reflektiert musikalische Wildwest-Klischees. Die innovative Instrumentierung mit Ventilposaune (Bob Brookmeyer) und Gitarre (Jim Hall) hält die Balance zwischen Country, Jazz und Kammermusik.

Als Ornette Coleman, der „Vater des Free Jazz“, seine ersten Platten machte (auf dem kalifornischen Label Contemporary), bekam die Westcoast-Revolution eine neue Richtung. Giuffre und Coleman trafen sich damals an der Lenox School bei Boston. „Ornette und ich hatten eine Jamsession“, erzählte Giuffre. „Wir schnitten die Halteseile durch, sprangen aus dem Flugzeug, und eine Menge wilder Dinge geschah. Wir wussten nicht, wie es klingen würde, aber es war eine Erlösung für mich.“

Kurz danach gründete Giuffre ein neues, nun frei improvisierendes Trio mit Paul Bley (Piano) und Steve Swallow (Bass) – der Zielpunkt seiner Entwicklung schien erreicht. 1961/62 entstanden rasch hintereinander drei Studioalben. Zwar blieb der schnelle Erfolg aus, doch das Trio wurde zur Legende. Noch heute erscheinen Live-Mitschnitte von der Europatournee 1961.

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