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von links: Margrethe Fredheim (Micaela), Mitglieder des Opernchors und Aldo di Toro (Don José). Foto: © Anna Kolata

Carmen in Kassel. von links: Margrethe Fredheim (Micaela), Mitglieder des Opernchors und Aldo di Toro (Don José). Foto: © Anna Kolata

 

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Bechers Bilanz – April 2024: Fröhliche Neugier in Köln und Kassel

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Bei der Verleihung des Deutschen Jazz-Preises im Kölner E-Werk herrscht Einigkeit: Der Jazz bereitet derart Vergnügen, dass er von rechtsextremen Ansichten vollständig befreit sein muss. Kulturministerin Claudia Roth begrüßt per Video-Botschaft die „lieben Demokratinnen und Demokraten“, die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, leibhaftig zugegen, formuliert dezenter. Ich habe meinen Gesinnungsfragebogen dieses Mal zu Hause gelassen und kann das daher weder bestätigen noch widerlegen. 

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Köln: Verleihung Deutscher Jazz-Preis
Alle Klippen umschifft

Es brächte kaum Erkenntnis über die Musik, wenn wir wüssten: rechtspopulistische Positionen liegen im Klassikpublikum bei – hm, sagen wir: – 33%, im Jazz bei 25% und bei Andreas Gaballier bei 88%. Wenn aber am 18. April 22 Deutsche Jazz-Preise an ein derart breites Spektrum von Menschen aller Hautfarben, Geschlechter, Altersklassen und Nationen gehen, segelt der Jazz offensichtlich auf gutem Kurs. Und wenn bei sämtlichen Dankesreden kein antisemitischer Zungenschlag die Feier verdirbt, stimmt auch dieser Kompass. Alle Klippen glücklich umschifft. Über die Gewinnerinnen und Gewinner informiere man sich andernorts: Ich empfehle stellvertretend das „Internationale Album des Jahres“. Es hat 2024 bereits einen Grammy als „Best Alternative Jazz Album“ abgeräumt, stammt von der amerikanischen Sängerin und Bassistin Meshell Ndegeocello und heißt „The Omnichord Real Book“. Der Nachname der in Berlin geborenen Künstlerin heißt auf Suaheli „frei wie ein Vogel“. Genauso klingt das Album. Der treibende Puls löst sich auf in ein federleichtes Kaleidoskop aus Knips- und Bratz-Geräuschen, allenthalben blitzen Soul- und Funkriffs auf. Auf jeder Party garantiert dieses Album maximale Entspannung und verfehlt doch die Aufgabe, weil irgendwann die Gespräche verstummen dürften, um kein Detail dieser fantastischen neuen Musik zu verpassen. 

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Wuppertal: Erwartung / Der Wald
Zwei Waldangststücke, mutig kombiniert

Die Oper Wuppertal hat Arnold Schönbergs „Erwartung“, dem Waldangststück der Moderne schlechthin, mit einem vergessenen Einakter der britischen Komponistin Ethel Smyth kombiniert: „Der Wald“, 1902 entstanden, sieben Jahre vor Schönbergs Monodram. Regisseur Manuel Schmitt erzählt die beiden pausenlos aneinandergefügten Stücke als eines. Im selbstgeschriebenen (deutschen!) Libretto von Smyths zweiter Oper steht Heinrich zwischen seiner Verlobten Röschen und Jolanthe, der Geliebten des Grafen, die den Verdatterten schnurstracks ins Bett zerren will. Heinrich entscheidet sich für die Treue und wird gerichtet – von der Frau aus „Erwartung“. Auf der Bühne erhellen sich viele Handlungsdetails der beiden Werke gegenseitig: Viel Irrationales bei Schönberg erhält eine handfeste Deutung, viel Herumposaune bei Smyth taucht ab ins Zwielicht. Patrick Hahn, der junge Chefdirigent der Wuppertaler Oper, dirigiert Schönberg mit großer Präzision. So beweglich und zart hört man diese Partitur, die im Schnitt alle vier Takte ihren Puls modifiziert, selten. Bei Smyth hingegen lässt er den überschwänglichen Melodien und der saftigen romantischen Harmonik freien Lauf. Ein Glücksfall, dass der Deutschlandfunk die Premiere am 7. April live mitgeschnitten hat.

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Wovor wir uns fürchten: Der Oper Wuppertal gelingt ein Erfolgsabend mit Schönbergs „Erwartung“ und Ethel Smyths „Der Wald“

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Wald – das ist Naherholung, guter Rohstoff und Klimaretter. Nachts aber lehrt er hölzern das Fürchten. Mutig hat die Oper Wuppertal Schönbergs Waldangststück mit einem vergessenen Einakter von Ethel Smyth kombiniert.

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Köln: Gürzenich-Orchester unter Elim Chan
Extase in den Noten und auf der Bühne

Das Gürzenich-Orchester stellt seine Konzerte unter Einworttitel. Wer jemals ein Saisonprogramm mit wechselnden Dirigentinnen und Dirigenten erstellt hat, weiß über die Vor- und Nachteile solcher Labels und deren Findung ausreichend Bescheid. Zu fragen ist nicht, ob sie auf das Programm passen, sondern ob sie die Aufmerksamkeit der Zuhörer lenken, Gedankenspiele anfeuern. Bei dem am 14. April von Elim Chan dirigierten Konzert in der Kölner Philharmonie färbt der Titel „Extase“ sogar auf die Interpretation ab. Alexander Skrjabins „Poème de l'extase“ op. 54 kreist um immer größere Crescendi, in denen Solotrompeter Bruno Feldkircher als Fels in der Brandung seine Themen behauptet (wofür ihm die Dirigentin beim Schlussapplaus ihren Blumenstrauß verehrt). Cham lockt aus dem Orchester Riesenkräfte hervor und reißt die Zuhörer aus ihren Sitzen. Richard Wagners Vorspiel und „Liebestod“ aus „Tristan und Isolde“ räkelt sich nicht im temperierten Klangbad, das die älteren Kollegen der Dirigentin bevorzugen, sondern klingt ebenfalls ekstatisch, drängend, ja ungeduldig und damit passend zum jugendlichen Alter der Bühnenpersonen. Vor der Pause spielt Benjamin Grosvenor das Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26 von Sergej Prokofjew. Dem britischen Pianisten und der Dirigentin aus Hongkong gelingt eine elektrisierende Interpretation, so gut, dass man – pardon! – in Extase verfallen möchte. Prokofjew reiht scharf konturierte, melodisch beseelte und harmonisch funkelnde Episoden aneinander. In den 1920er-Jahren, außerhalb der Sowjetunion und im Umfeld seiner Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“, erklimmt Prokofjew den Höhepunkt seines kompositorischen Könnens. 

Köln: Gürzenich-Orchester unter Andrés Orozco-Estrada
Vorspiel des neuen Chefdirigenten

Noch einmal das Gürzenich-Orchester in der Kölner Philharmonie. Erstmals, seit er zum kommenden Chefdirigenten ernannt wurde, gastiert Andrés Orozco-Estrada in Köln. Dementsprechend hochgespannt und -karätig sind Erwartungen und Publikum. Sogar Henriette Reker lässt sich blicken. In der äußerst zackig gespielten „Schottischen Symphonie“ von Felix Mendelssohn Bartholdy vertraut der Dirigent den grollenden Pauken mehr als den Sechzehnteln der Streicher; erst im vierten Satz gelingt es, die für dieses Werk so typische brodelnde Unruhe leise und gleichzeitig brennend auszubalancieren. Solist François Leleux präsentiert Bohuslav Martinůs spätes Oboenkonzert ebenso verschmitzt wie unbeschwert. Es ist ein sanftes Werk, schwer zu fassen, irritiert klatscht das Publikum nach dem 1. Satz. Aber im langsamen Mittelsatz zeigt der große tschechische Komponist, den das 20. Jahrhundert auf eine unfreiwillige Reise durch die Welt geschickt hat, dass er bei allem Neoklassizismus ein wundervoller Ausdrucksmusiker ist. Leleux spielt das in all seiner Größe.

Das Konzert am 4. April beginnt mit einem 10-Minuten-Stück der Koreanerin Unsuk Chin, die in diesem Jahr den begehrten Siemens Musikpreis erhält. Damit wird ein kompositorisches Gesamtwerk ausgezeichnet, das seit ihrem Durchbruch Anfang der 90er-Jahre mit „Akrostichon-Wortspiel“ in seiner Vielfarbigkeit, Weltoffenheit und fröhlichen Neugier seinesgleichen sucht. Das Orchesterstück „Rocana“, das Sheng-Konzert, auch der gehobene Blödsinn von „Cantarix Sporanica“ bezeugen das aufs Schönste. Leider schreibt Chin auch immer wieder Konzerte, die vor allem die Virtuosität der Solisten bedienen, etwa ein Klarinettenkonzert oder zuletzt das Violinkonzert Nr. 2, das noch in der arte-Mediathek zu finden ist. In „Operascope“, das sich sage und schreibe fünf betuchte Auftraggeber teilen, instrumentiert sie fast jeden Ton individuell, in kurzen Gesängen lächeln nicht zu lokalisierende Opernszenen. Eine listige Komposition, die bei aller Nervosität winzige Fenster in die Herzen der stressgeplagten Abonnenten öffnet.

Kassel: Bizets „Carmen“
Viel Sprengkraft im nordhessischen Staatstheater

„Carmen“ scheint robuster zu sein als andere Erfolgsstücke des Repertoires. Mir ist eine zweistündige, sehr handfeste Inszenierung von Harry Kupfer (1989 bei den Wiener Festwochen) in Erinnerung. Der knisternde Film von Carlos Saura. Eine Ensemble-Fassung an der Hamburger Theaterakademie in einer Bearbeitung von Leopold Hurt, wo das Todesmotiv auf der Zither klang wie von Ritchie Blackmore intoniert. Die energetische Corona-Version in Hannover (Regie: Barbora Horáková Joly). Und nun Kassel, wo das ausverkaufte Staatstheater am 21. April bebt und das sehr jugendliche Publikum Partylaune verbreitet. Man versteht GMD Francesco Angelico, der sich am 5. März öffentlich darüber ärgerte, dass der Musik in Kassel nur noch die zweite Geige gegönnt wird. Und man versteht den Intendanten Florian Lutz, der kontert, dass sein Publikum mehr und jünger wird. Bei seiner Inszenierung der „Carmen“ sitzt das Orchester in der Tiefe der Hinterbühne, die Sänger sind verstärkt, die Klangbalance kippt komplett, von Bizets Musik bleibt in dieser Aufstellung wenig übrig – was wirklich nicht dem hervorragenden Dirigenten Kiril Stankow anzulasten ist, der die schwierige Koordination zwischen Gesang und Orchester mit größter Präzision garantiert. Aber man erhält viel Neues: einen Don José als Polizisten von nebenan (Aldo di Toro), der mit schönstem Tenor seinen Traum festhalten will und seine stimmgewaltige Carmen (Ilseyar Khayrullova) am Ende laufen lässt; ein Schmugglerquartett, das zwischen Pussy Riot und querer Fröhlichkeit eine Revolution anzettelt; einen Escamillo (Filippo Bettoschi), der als Fußballkaiser verehrt wird; Schulmädchen, die in scharfer Diktion die verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus erklären; Zuschauer im Bühnenbild, die Zigaretten drehen müssen, dafür aber auch ein Bier spendiert bekommen. Gespielt wird im gesamten Bühnenhaus, Kameraleute heften sich den Sängerinnen an die Fersen. Diese „Carmen“ berührt nicht, sie hat keine Tiefe, vielleicht auch kein Herz, aber sie detoniert wie ein Molotow-Cocktail im Opernpublikum. So viel Sprengkraft ist unter dem roten Rüschenkleid noch zu entdecken. In Kassel.

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