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Die Darsteller stehen in tiefschwarzer und dunkler Halle und halten schwarzweiß Bilder in die Kamera.

Erinnerungen: Das Libretto zu „Aus einem Totenhaus“ beruht auf Dostojewskis eigenen Erfahrungen aus einem sibirischen Gefängislager. © Volker Beushausen

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Bechers Bilanz – August 2023 – Dämonen halten sich an kein Skript

Vorspann / Teaser

Das Feld des Musiktheaters steckt die Ruhrtriennale im letzten Jahr der Intendantin Barbara Frey im Laufschritt ab. Nur zwei Studienobjekte, um genauer hinzusehen. Eine Auftragswerk für den französisch-griechischen Komponisten Georges Aperghis sowie das letzte Bühnenstück von Leoš Janáček müssen genügen. Letzteres zeichnet sich allerdings durch die weitgehende Abwesenheit opernhafter Elemente aus, und die verbleibenden lösen sich in der Inszenierung der Ruhrtriennale auf. Nun gut.

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Bochum, Ruhrtriennale: Aus einem Totenhaus
Körpertheater im Stahlkäfig

Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov präsentiert Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ als intensives Körpertheater. In diesem Gefängnis ersetzt der Faustschlag das Schulterklopfen oder die Umarmung. Wer fällt, kriegt sowieso einen Tritt dazu. In der Bochumer Jahrhunderthalle – die Premiere fand am 31. August statt – erzwingt der Regisseur eine spektakuläre Nähe zwischen Theaterspiel und Publikum: Hinter Stahlgittern stehen die Besucherinnen und Besucher in drei Etagen um die Spielfläche herum, dort aber, „im Gefängnishof“, ist ebenfalls Publikum platziert. Es umringt die Sänger (gendern ist bei dieser Produktion zwecklos, Janáčeks wenige Soprantakte wurden konsequent herausgeschnitten oder umgebaut), ja verschmilzt mit diesen und ihren Alltagsklamotten. Die übliche Distanzierung vor der „Vierten Wand“ ist nicht möglich, nicht räumlich, nicht sozial, schließlich auch nicht emotional. Akt für Akt folgt man den Gefangenen tiefer in das Dunkel der Jahrhunderthalle hinein, bis am Ende gleißende Scheinwerfer eine Freiheit suggerieren, die sich indes als Wunschtraum entpuppt. Im Totenhaus gibt es keine Hoffnung. Diese Inszenierung brennt sich tief in in der Betrachterin und im Betrachter ein.

Leider auf Kosten von Janáčeks Orchester. Insbesondere vom instrumentalen Vorspiel wie auch vom Finale ist nichts mehr zu hören. Dabei schält Dennis Russell Davies – Chefdirigent im tschechischen Brno sowie beim MDR-Sinfonieorchester – mit den Bochumer Symphonikern den nicht unerheblichen lyrischen Gehalt des Werkes heraus. Das hätte man sich gerne genauer angehört. Aber man war ja gefangen. Ganz nah rücken dafür die durchweg exzellenten Sänger, allen voran John Daszak, Bekhzod Davronov und Stephan Rügamer, der auch bei größtem schauspielerischen Einsatz zwischen irrem Gelächter noch schön singt, sowie der bayreuthbekannte Johan Reuter, der den „Politischen“ Gorjančikov mit einer starken Präsenz ausstattet.

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Allerlei dicke Stahlrohre mit leichtem orangenem Schein.

Wo einst die Heißluft durch die Stahlrohre geblasen wurde, bläst allenfalls noch das „Blech“ und „Holz“. © Christoph Becher

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Duisburg, Ruhrtriennale: Die Erdfabrik
Nachtstück mit Kanarienvogel

Gut eine Woche lang war „Die Erdfabrik“ in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord zu sehen. In dieser Produktion dominieren zwei Schlagzeuger, Dirk Rothbrust und Christian Dierstein. Dass diese beiden mit dezenten Kostümzitaten aus der Arbeiterbewegung auftreten (Hosenträger, Schiebermütze), verdankt sich der Reise in die Bergwerke, die Georges Aperghis für die Ruhrtriennale angetreten hat (besuchte Vorstellung am 20. August). Aperghis collagiert Texte der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff und des Schriftstellers Jean-Christophe Bailly, interessiert sich aber weniger für den in diesem Teil der Republik noch immer sehr greifbaren Untertagebau, noch für die Gebläsehalle als Raum, sondern für das Dunkle, Tiefe, Einsame. Selbst der Kanarienvogel, traditionell ein Warnvogel in den Gruben, verwandelt sich in den Videoprojektionen von Jeanne Apergis in einen Höllenhund, der Lavaströme speit. Ein Nachtstück. Erst am Schluss schlüpft es in den Schoß zeitgenössischer Umweltdebatten: Wurzeln bohren sich durch Betonplatten, die Natur erobert sich die Erde zurück – so viel zur betulichen, aber keinesfalls falschen Moral der „Erdfabrik“.

Auch Aperghis‘ Partitur schreckt nicht vor Banalitäten zurück, etwa dem Gebrauch von „lions roar“, Kettengerassel und Amboss. Imposant aber ein mannshohes Drehkreuz, in dessen Hohlräumen ein dumpfes Gepolter aufgeweckt werden kann. Die beiden Schlagzeuger, Kontrabassistin Sophie Lücke und Trompeter Marco Blaauw realisieren ein pointilistisches Tongewebe, ohne dass die daraus entstehenden Klangbilder in dramaturgischen Fluss kämen. Das ist vielleicht auch nicht nötig. Denn die Dämonen, die den Schlaflosen nächtens befallen, halten sich an kein Skript. „Die Erdfabrik“ ist ein Stück schwarzer Romantik in der Aufklärung, zwei Pole, die sich immer gerne gespiegelt haben. Und die Sängerin Donatienne Michel-Dansac ist ihr Kanarienvogel. Ihr Singen, Wimmern und Summen scheint von vielen Vokalistinnen zugleich abzustammen. Grandios.

 

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Aachen: Konzert der Landesregierung
Tolles Orchester vor dem Münster

Alljährlich lädt die CDU-geführte Landesregierung Nordrhein-Westfalens ihre Bürger zu einem Orchesterkonzert bei freiem Eintritt ein. Für den 12. August errichtete man eine open-air-Bühne malerisch auf dem Katschhof zwischen Rathaus und Aachener Münster. Schon ein einziger Regenguss kann viele Hoffnungen vernichten und Geldausgaben sinnentleeren; doch die Sonne setzte sich durch.

Das Programm war kundenfreundlicher als ein Regionalbus: Die Leute werden abgeholt, wo sie sind, und der Intendant des mitschneidenden WDR (Fernsehen und Radio), Tom Buhrow, findet es wie so vieles andere „toll“ (oder hat er „wunderbar“ gesagt?), dass wir an diesem Abend Klassik für alle hören, natürlich Bernstein, Gershwin, Piazzolla, John Williams, Morricone – aber auch Brahms und Haydn. Als die Moderatorin Anna Planken den Ministerpräsidenten fragt, ob man denn wirklich so viele Landesorchester in NRW benötige, knistert es vor Spannung. Hendrik Wüst bleibt cool: „Ich kenne niemanden, der ein Orchester abschaffen will. Kennen Sie jemanden?“ Allein dafür hat sich der Besuch gelohnt.

Und für die Neue Philharmonie Westfalen unter ihrem Chefdirigenten Rasmus Baumann, die mit Lust und Leidenschaft spielt. Ihr Solooboist Gioele Coco bringt das pinke Oboensolo zu Morricones „The Mission“ zum Leuchten, Diseuse Katherine Mehrling verbreitet Berliner, nein: ihren Charme in Aachen. Zu hören, wie die Mehrling „Cabaret“, Piaf oder auch einen eigenen Chanson singt, ist immer wieder eine große Freude. Spätestens mit ihrem Auftritt erwärmte sich auch der schneidend scharfe Klang aus den Lautsprechern. Dieser hatte leider die „Candide“-Ouvertüre ruiniert, aber das Werk als Einstieg ist ohnehin ein Wagnis.

Köln: Cologne Jazzweek
Jazz mit proletarischen Schießbuden

Die Cologne Jazzweek geht ins dritte Jahr. Schnell ist das Festival gewachsen, 17 Spielstätten beteiligen sich mittlerweile, von alteingessenen Jazz-Clubs wie dem Stadtgarten und dem King Georg bis hin zur Kölner Philharmonie und zum Sendesaal des WDR Funkhauses. Das reichhaltige Programm verzichtet auf eine Handschrift. Schon am ersten Sonntag auf der open-air-Bühne des Stadtgartens – bei freiem Eintritt – folgt auf die Clownerien Matthias Schriefls nahtlos das zornige Donnerwetter einer Joy Guidry, bei dem Eltern wilden Blickes den Nachwuchs einsammeln und fliehen. Dass „Radical Acceptance“ (Gesang, Posaune, Violine, Elektronik, Bass, Drums) in tröstliche Spirituals mündet, zeigt die Bandbreite der texanischen Fagottistin. Der Niederländer Tijn Wybenga stellt ein Ensemble zusammen, mit dem man fast Schönbergs Kammersymphonien aufführen könnte, unterlegt ihm ebenso groovende wie facettenreiche Patterns und lässt seinen Mitstreitern viel Raum. Handwerklich blitzblank. Große Begeisterung am Nachmittag des 13. August.

Am Abend tastet sich Nils Petter Molvær durch die eingenebelte Philharmonie, nachdem ihm DJ Strangefruit und Jan Bang den Klangraum gerichtet haben. Der norwegische Trompeter verknüpfte auf seinem Debutalbum „Khmer“ vor einem guten Vierteljahrhundert Jazz und Elektronik. Heute addiert er die treibende Kraft zweier Schlagzeuger (Rune Arnesen und Per Lindvall) hinzu, die gemeinsam mit Bassist Audun Erlien eine solide Rockbasis legen. Stärker als in „Khmer“ rückt diese in den Vordergrund, Molvær und Gitarrist Elvind Aarset modellieren den Klang, die im Jazz gerne ausgestellte Virtuosität bleibt komplett außen vor. Die voll besetzte Philharmonie springt aus den Sitzen, als der Set nach knapp einer Stunde endet: Der esoterische, bürgerliche ECM-Sound des norwegischen Jazz, unterspült von proletarischen Schießbuden – diese Mischung trifft den Geschmack der Jazzweek. Anders als die folgende Sängerin Solveig Slettahjell, ebenfalls aus Norwegen, deren Songs trotz exzellenter Begleitung durch den Jazzpianisten Morten Qvenild für viele im Publikum ein Aufbruchszeichen setzen. Der Energielevel sinkt zu rapide. Das hat die schöne Musik des Duos nicht verdient.

Dass die Cologne Jazzweek im dritten Jahr vollständig beim Publikum angekommen ist, zeigte sich auch am 14. August im ausverkauften WDR-Funkhaus. Das Pablo Held Trio mit Robert Landfermann und Jonas Burgwinkel hatte die chilenische Saxophonistin Melissa Aldana eingeladen, die sich mit attackelosem Ton in das abgerundete Klangbild der drei einfügt, aus dem immer wieder das energetische Drumset Burgwinkels herauspurzelt. Held selbst spielt zurückhaltend bis zur Selbstverleugnung und wird entsprechend nach der Pause hinweggefegt von Aki Takase und ihrem kraftvollen und spielwitzigen Ensemble „Japanic“. Die aus Osaka stammende Altmeisterin versammelt nicht nur vier jüngere Musiker um sich, sie selbst ist ein Jungbrunnen an den Tasten: neugierig, frech, übermütig, rotzig und technisch auch im achten Lebensjahrzehnt hervorragend. Selten hört man Pianisten so präzise voneinander unabhängige Melodien schichten. Takase spielt wirklich polyphon. Und dass sie ihren Stiefsohn DJ Illvibe einlädt, an den Turntables irritierende Comic-Klänge hinzuzumischen, rundet das Bild ab. Wozu auch gehört, die fabelhaften Mitmusiker zu nennen: Daniel Erdmann (Saxophon), Johannes Fink (Cello!), Dag Magnus Narvesen (Drums).

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WDR3: Klassikforum vom 19. August
Schauerklänge von Ralph Caspers

Und dann war da noch – wie immer am Vormittag im Programm WDR3 – ein dreistündiges Klassikforum am Samstag, den 19. August, zu dem sich Moderator Jörg Lengersdorf seinen Fernsehkollegen Ralph Caspers eingeladen hatte, den ganz NRW wegen seiner „Sendung mit der Maus“ liebt. Und als wolle er dieses Image gerade rücken, spielte Caspers Musik, die zu einer Reihe von ihm geliebter Horrorfilmen gehört: natürlich Bartók und das aufgemotzte Dies Irae aus „Shining“, das Gänsehautlied aus „Rosemaries Baby“, Musik von Hitchcocks Bernard Herrmann und von Tim Burtons Danny Elfman. Dazu jede Menge Schauerklänge von Saint-Saëns, Berlioz und Stockhausen. Als Caspers dann Musik der italienischen Rockband „Goblin“ präsentierte, die durch Dario Argentos Streifen Kultstatus errungen hat, war es um mich geschehen. Unbedingt wieder „Suspiria“ ansehen, so laut, dass die Nachbarn klopfen. Und dieses amüsante und gruselig-schöne Klassikforum nachhören. Klassik Forum macht Ah! - mit Ralph Caspers - WDR 3 Klassik Forum - WDR 3 - Podcasts und Audios - Mediathek - WDR

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