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Martin Grubinger. © Simon Pauly

Martin Grubinger.

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Bechers Bilanz – Juni 2023 – Die Stimme der Traumatisierten

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Ob Musik eine Treffsicherheit entfalten kann, die der des politischen Arguments gleicht, darüber wird seit den 1960er-Jahren ebenso erbarmungs- wie ergebnislos gestritten. In den 90er-Jahren wand sich eine Art Konsens aus der Debatte, ausgehend vom Spätwerk Luigi Nonos, dass eine durch Musik angefeuerte Verfeinerung des Hörens zielführender sei als eine markige Manifestation der Gesinnung. Indem aber Nonos Musik verblasste, während die seiner Erben Überhand nahm, zerstob auch dieser Konsens. Im vergangenen Monat entdeckte ich in einigen Werken jüngeren Datums wieder die Wut, die es braucht, damit sich Musik in einen Stachel verwandelt.

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Köln: Uraufführung von Michael Hersch
Die Wut der Medea

Der amerikanische Komponist Michael Hersch (* 1971) formte mit der Librettistin Stephanie Fleischmann aus dem Medea-Stoff ein Musiktheater, das konzertant vom Ensemble Musikfabrik unter Bas Wiegers im Kölner Funkhaus am 3. Juni uraufgeführt wurde. Die Kindsmörderin, einzige Protagonistin und luxuriös besetzt mit Sarah Maria Sun, hält eine einstündige Wutrede, gespiegelt von einem sechsköpfigen Chor (Schola Heidelberg). Trotz dieser hervorragenden Ingredienzen hadert Herschs „Medea“ mit einem Zuviel an druckvoller Musik. Der Zorn, der zur Tat der Traumatisierten führte, entlädt sich in schrillen Akkorden des 16-köpfigen Kammerorchesters, angeführt von zwei Pianisten, die erst am Ende eine einzige längere Ruhephase erlauben. Während Medea im Text aber Emotionen wie Verzweiflung, Trotz, Selbstgerechtigkeit, Sehnsucht, Trauer ausdrückt – kommentiert, verstärkt und angezweifelt vom Chor –, betont die Musik vor allem ihre Wut. Hersch konzentriert sich auf die Vertikale, auf mikrotonale Reibungen, auf die Wucht der Akkorde, Linien (offenbar aus den Akkorden abgeleitet) drängen sich nicht auf, auch keine dramaturgische Linie. Beifall für alle Beteiligten, allen voran für die wunderbare Sopranistin.

Köln: Georges Aperghis: „Migrants“
Täglich werden sie mehr

„Migrants“ von Georges Aperghis gehört zu den Signatur-Stücken des Ensemble Resonanz. Der seit sechs Jahrzehnten in Paris lebende Komponist schrieb „Migrants“ 2015 für das in Hamburg ansässige Streicher-Ensemble, mit dem ihn seit vielen Jahren eine enge Zusammenarbeit verbindet. Ein knappes dutzend Mal hat das Ensemble Resonanz „Migrants“ inzwischen gespielt, in die Kölner Philharmonie kamen am 12. Juni nur wenige Zuhörer, darunter aber viele Schülerinnen und Schüler, die sich zuvor im Rahmen eines „Response“-Projektes mit dem Thema Migration musikalisch auseinandergesetzt hatten.

„Migrants“ reagiert auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 mit einer Art Kantate für 19 Streicher, 2 Pianisten und 3 Schlagzeuger sowie zwei Sängerinnen: Agata Zubel und Christina Daletska. Es dirigiert der Aperghis-Vertraute Emilio Pomàrico. Der Komponist mischt Erlebnissprotokolle der Flüchtenden mit Textpassagen aus Joseph Konrads „Das Herz der Finsternis“ und Fantasievokabeln. Eine musikalische Reflektion über Menschen, die vor Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit fliehen und alles aufs Spiel setzen, birgt die Gefahr, das Unrecht für die satten Kulturbürger Europas konsumierbar zu machen. Aperghis schreibt deshalb eine vom Aufschrei geprägte Musik, in der es nur ruhig wird, wenn hohle Augen einen anstarren. Das kleine Orchester agiert kammermusikalisch, wird aber orchestral geführt, selbst die drei Schlagzeuger spielen chorisch, während die Einsätze der beiden Pianisten wie Peitschenhiebe knallen. Nach der Uraufführung schrieb Aperghis zwei weitere Sätze, denn die Flüchtlinge sind gekommen, um zu bleiben, und täglich werden sie mehr. Nun dauert das Werk gute 75 Minuten. Der vierte Satz enthält ein ausgedehntes Bratschensolo, geschrieben für Tabea Zimmermann, in Köln gespielt von Geneviève Strosser. Auch dieses Solo ist Anklage und nicht Gesang der Hoffnung. „Migrants“ wendet sich den Menschen zu, es fordert dazu auf, nicht zu verdrängen, was an den EU-Außengrenzen geschieht und weiter geschehen wird.

Köln: Martin Grubinger und Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Abschied von einem Ausnahmesolisten

Zwei Jahrzehnte währt die internationale Karriere von Martin Grubinger. Nun soll, nach glaubhaftem Bekunden des Ausnahmesolisten, Schluss sein. Geistiges Interesse und körperliche Grenzen zeigen dem österreichischen Schlagzeuger an, dass es ein Leben abseits der Musikmetropolen gibt. Selbstverständlich sagt Grubinger zum Abschied nicht „leise servus“, sondern lässt es noch einmal richtig krachen. Für sein Kölner Publikum hat Grubinger das Schlagzeugkonzert von Peter Eötvös ausgesucht, das er 2014 uraufgeführt hat. Ist der ungarische Komponist in seinen Opern und fantastischen Instrumentalwerken („Steine“!, „Atlantis“!!) ein dezenter, eher reflektierender als eruptiver Komponist, so überrascht „Speaking Drums“ als Kabinettstück für einen spielenden, deklamierenden und extrovertierten Musiker. Das Schlagwerk wird zum Sprechen gebracht, die Texte von Sándor Weöres stehen in dadaistischer Tradition. Ein letztes Mal zeigt Grubinger für Köln, dass seine Popularität auf atemberaubender Präzision und Musikalität fußt. Die nahezu ausverkaufte Kölner Philharmonie (7. Juni) bedankt sich stehend, nicht nur für ein vergnügliches Konzertwerk Neuer Musik, sondern auch bei einem der sympathischsten und besten Musiker weltweit. Wir ziehen den Hut vor Martin Grubinger, er hat die Musikwelt reicher gemacht.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen begleitet Grubinger unter der Leitung ihres Ersten Gastdirigenten, des jungen Finnen Tarmo Peltokoski, mit Leidenschaft und Freude und semmelt mit ihm auch einen Ragtime als Zugabe. Die zahlreichen Kinder und Teenager im Publikum bleiben auch nach der Pause und bekommen eine „Schottische Symphonie“ präsentiert, die in der Lesart der Bremer geradezu vibriert. Möge Mendelssohn auch mehr Mitte im Sinn gehabt haben – die von Mahler her gedachte Dramatisierung der „Schottischen“ ist in der Partitur enthalten.

Köln: Elim Chan und das Gürzenich Orchester
Ein zauberhafter „Feuervogel“

Die in Hongkong geborene und in den USA ausgebildete Dirigentin Elim Chan war 2014 die erste Dirigentin, die den renommierten Londoner Dirigentenwettbewerb Donatella Flick gewann. Ihre Laufbahn nimmt Fahrt auf, seit 2019 ist sie Chefdirigentin in Antwerpen. Beim Gürzenich Orchester gastierte sie bereits zwei Mal und besuchte nun – kurzfristig eingesprungen für Dmitrij Kitajenko – ein drittes Mal am 18. Juni die wie stets hervorragend besuchten Abonnementkonzerte des Orchesters in der Kölner Philharmonie. Das von Kitajenko geplante russische Programm wurde durch ein anderes russisches Programm ersetzt. Allerdings haben Igor Strawinski und Sergej Rachmaninow ihrer Heimat den Rücken zugekehrt. Mehr noch als in den „Symphonischen Tänzen“ punktet Elim Chan in der „Feuervogel“-Suite (1919), die sie ohne Dirigentenstab leitet. Ihr reiches Repertoire an Handbewegungen lässt ahnen, wie tief sie die Klangbezirke dieses (im doppelten Sinne) zauberhaften Werks durchdrungen hat. So sorgfältig einstudiert und warmherzig musiziert hört man den „Feuervogel“ selten.

Köln: DLW-Festival
Jazz-Trio trifft auf Klangforum Wien

Das 2010 gegründete Trio Dell-Lillinger-Westergaard lud ein zum zweitägigen „DLW-Festival“ in der Kölner Orangerie. Zum Abschlusskonzert am 4. Juni traf das Trio auf ein Quartett des Klangforum Wien. Das Septett „Axiom I“ hatte man wenige Wochen zuvor bereits bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik vorgestellt. Christopher Dell (Vibraphon), Christian Lillinger (Schlagzeug) und Jonas Westergaard (Kontrabass) weben einen quirligen, in sich stark verästelten Musikstrom, dessen Puls sich nicht aufdrängt. Dass er das komplexe Gerüst bildet, davon berichten die Musikerinnen und Musiker; auf der Bühne wirken sie davon befreit. „Axiom I“ verlässt sich lange auf die Septett-Formation und gestattet sich erst im letzten Drittel sowohl dynamische Abwechslung als auch Binnenensembles bis hin zum kurzen Klaviersolo. Solistisch wurde der Abend eingeleitet von Gunde Jäch-Micko, die Thomas Wallys Violinsolo mit bewundernswerter Klangfülle spielte, gefolgt von Gerald Preinfalk mit der Uraufführung eines Saxophonstücks von Georges Aperghis: ein langer Monolog, in dem jede Figur neue Varianten zeugt, oft mikrotonal verschoben. Das gebannt zuhörende Publikum in der gut besuchten Orangerie nahm die Gelegenheit gerne wahr, den Sonntagabend gemeinsam mit den Akteuren des DLW-Festivals ausklingen zu lassen.

Wien: „Sibyl“ von William Kentridge
Antworten, Antworten. Wie lautet nochmal die Frage?

Der Sage nach besitzt die Seherin Sibylle keinen ordentlichen Wohnsitz, sondern haust in einer Höhle. Wer Rat sucht, schreibt seine Frage auf ein Blatt Papier und erhält anderntags die Antwort auf einem anderen Blatt. Sibylle beschriftet aber viele Papiere mit Antworten auf viele Fragen, und über Nacht pustet der Wind die Blätter durcheinander. Wohl dem, der eines dieser Antwortblätter findet, doch wie soll er wissen, dass es sich nicht um Antwort für einen anderen handelt? In einer redseligen Welt hören wir unablässig Antworten, ohne zu wissen, ob jene auf uns gemünzt sind.

Der Südafrikaner William Kentridge beehrt die Wiener Festwochen in deren letzten Tagen mit einem Gastspiel, zu dem das Publikum am 19. Juni in das ausverkaufte Museumsquartier pilgert. „Sibyl“ besteht aus einem Film, in dem Kentridge mit unförmigem Kohlestift und scharfem Lineal zeichnet, sich selbst Ratschläge erteilt und gebannt zusieht, wie seine Zeichnungen zu leben beginnen. Freundliche Dur-Akkorde begleiten ein Männerquartett, zwei-, dreimal schlagen sie in Freejazz um. Nach der Pause folgen Szenen mit neun Performerinnen und Performern. Gesungen werden Bantu-Dialekte, Mythen und Traditionen (für mich nicht entschlüsselbar) werden assoziiert, vor allem gibt es viele Fragen und viele Antworten, projiziert in das Bühnenbild oder gesungen. Dass sich die Antworten im Finale stärker an das Publikum richten und stärker zu Paulo-Coelho-Sinnsprüchen neigen, tut der Faszination dieses Abends keinen Abbruch. Kentridge arbeitet mit den Materialien unserer Kindheit: Bleistift und Schattenspiel. Damit erlangt er Zugang zu verborgenen Schichten in uns. Wie in dem eingangs gezeigten Film: Man begegnet sich bei Kentridge selbst.

Gelsenkirchen: „Bernarda Albas Haus“ von Aribert Reimann
Dietrich Hilsdorf trumpft mit Personenregie

Am 24. Juni erwische ich die letzte Vorstellung von Aribert Reimanns Oper „Bernarda Albas Haus“ im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, in der kommenden Spielzeit scheint keine Wiederaufnahme geplant. Grausame Opernwelt. In Hamburg ruft man sich die Losung „Abschlachten“ zu, wenn eine Produktion nicht mehr wiederkommen soll. Und diese hier, in der Inszenierung von Dietrich Hilsdorf und der naturalistischen Ausstattung von Dieter Richter, hätte es verdient. Wie Reimann sich ohne Hinzufügung von Dante- oder Enzensberger-Versen aus dem Theaterstück von Lorca ein Libretto zusammenstellt – und dieses bewunderswert zwischen expressionistischem Kunstgesang, Sprechtexten und einer zuweilen wie von kalter Wut getriebener Orchestersprache balanciert –, so setzt Hilsdorf auf eine realistische Totenhaus-Erzählung. Sein Trumpf heißt Personenregie. Eine derart tief ergründete Präsenz der Darstellerinnen ist auf der Opernbühne nur selten zu erleben. Sie berühren alle, allen voran die aufbrausende, hartherzige Mutter Bernarda, glühend gesungen von Almuth Herbst, sodann (um wenigstens zwei zu nennen, die man im Blick und im Ohr behalten sollte) die Mezzosopranistin Lina Hoffmann als älteste Tochter Angustias und die Koloratursopranistin Soyoon Lee als buckelige Martirio, die die Katastrophe durch eine Indiskretion herbeiführt. Und alle sind sie Ensemblemitglieder in Gelsenkirchen (mit Ausnahme von Mechthild Großmann als wirre Großmutter, die hier nicht unerwähnt bleiben soll). Langer Applaus im gut besuchten Opernhaus.

Die Uraufführung des Werkes im Jahre 2000 in München wurde in der Umfrage der Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gewählt. Das Bühnenbild bestand damals aus über 200 Stühlen: hinten, vorne, oben, unten. Dahinter steckte eine kluge Idee. Hinter der Gelsenkirchener Produktion steckt Liebe.

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