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Simon Neal (Nekrotzar; links vom Leichenwagen) und Statisterie der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller.

Simon Neal (Nekrotzar; links vom Leichenwagen) und Statisterie der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller.

 

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Bechers Bilanz – November 2023: Die Atmosphäre ist geladen

Vorspann / Teaser

Das von Pianist Igor Levit und dem Publizisten Michel Friedmann am 27. November im Berliner Ensemble initiierte Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus zeigt, welche Dringlichkeit Musik ausstrahlen kann, wenn die Umstände Haltung verlangen. Musik verbessert die Welt nicht, aber sie schweigt eben auch nicht und sie meidet die Seite der Täter. Allein das Aufgebot an Künstlerinnen und Künstlern, das der Einladung des Pianisten folgte, beweist Anteilnahme für die Opfer des Hamas-Terrors. Das Ausbleiben dieser Anteilnahme hatte Levit in einem bewegenden ZEIT-Interview vom 16. November beklagt. Wie geladen die Atmosphäre im Kulturleben seit dem Überfall auf Israel ist, spürt man allerorten.

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Essen: Abschied von Franz Xaver Ohnesorg
Gala-Konzert mit Weltstars und Glatteis

Der am 14. November unerwartet verstorbene Franz Xaver Ohnesorg hatte monatelang am Programm für ein Galakonzert in der Essener Philharmonie gearbeitet, in dem er seine 28 Jahre währende Intendanz des Klavier-Festivals Ruhr an die Kulturmanagerin Katrin Zagrosek übergeben wollte. Nun wurde das Konzert am 25. November zu einem vierstündigen Abschied, bei dem sich – man muss es so abgedroschen sagen und steht doch bewundernd davor – Weltstars die Klinke in die Hand gaben: Anne-Sophie Mutter, Martha Argerich, Lang Lang, das wunderbare Klavierduo Tal & Groethuysen, Renaud Capuçon, die Sänger Michael Nagy und der fantastische Christoph Prégardien, Joseph Moog sowie Michael Barenboim mit einer Reihe junger Musikerinnen und Musikern des West-Eastern Divan Orchestra. Das Orchester setzt sich bekanntlich aus jüdischen und palästinensischen Musikern zusammen. Ihm sollte der Erlös des Abends gespendet werden, womit alle einverstanden sind. Katrin Zagrosek versprach eine fünfstellige Summe, wurde dann aber hinter der Bühne offenbar gezwungen, noch einmal und ungeplant das Mikrophon zu ergreifen, um zu versichern, dass dem Orchester nicht nur die Opfer des Hamas-Terrors zu Herzen gehen, sondern auch die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen. Ein Ja, kein Aber.

Musikalisch genossen am 25. November all jene das Programm, die zufrieden sind, wenn kein Stück jünger als 100 Jahre alt ist. Ganz vorne, seit über sechs Jahrzehnten: Martha Argerich, die mit großer Zärtlichkeit und feenhafter Leichtigkeit gemeinsam mit ihren Duopartnern musizierte: mit Capuçon Schumanns a-Moll-Sonate und mit Sergio Tiempo Ravels „Ma Mère l’Oye“. Yaara Tal und Andreas Groethuysen spielten eine traumverlorene Schubert-Fantasie (D 940). Und nach den exzentrischen, aber spannenden Lang-Lang-Variationen zugunsten eines nicht weiter benannten Herrn Goldberg sprang das Publikum der nach allen Seiten und Rängen voll besetzten Philharmonie aus seinen Sitzen.

Köln: Sonoro Quartett
Hat jemand mit dem Fuß aufgestampft?

Beim Sonoro Quartett beginne ich mit der Zugabe: dem „zweiten Satz“ aus dem 8. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch. Die Primaria und ihre drei Mitmusiker toben die Noten hervor, als ginge es ihnen an den Kragen. Und erkennt man den jüdischen Zungenschlag in Schostakowitschs Melodik, dann verwandelt sich ein Brausen wie dieses in einen einzigen Aufschrei. (Ähnlich ergeht es mir mit Chaya Czernowins neuer Ensemble-Komposition „Seltene Erden“, die ich am 28. November bei Wien modern mit dem Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke höre: ein starkes, ja beängstigendes Werk. In beiden Fällen versenken sich die grausamen Bilder und Nachrichten aus dem Nahen Osten in Musik.) Das junge belgische Quartett gastiert auf Vorschlag des Bozard im Rahmen der verdienstvollen Reihe „Rising Stars“ am 26. November in der Kölner Philharmonie. Die Reihe ist eine Initiative von 21 europäischen Konzerthäusern, der ECHO, und erlaubt immer wieder die Bekanntschaft mit fantastischem Nachwuchs. Das Quartett spielt – neben einem leichtgewichtigen Vierminüter der aus Sri Lanka stammenden Komponistin Vinthya Perinpanathan und einem flirrenden „Tsunami“ ihrer belgischen Kollegin Annelies van Parys – zwei Schwergewichte aus der Quartettgeschichte: Bartóks Fünftes Quartett und Beethovens Drittes „Rasumowsky“. Spinnwebfeins Pianissimo unterstreicht den formalen Wagemut Beethovens, andernorts wütet pure Energie. Hat Sarah Jégou-Sagemann da nicht eben mit dem Fuß aufgestampft? Die betagten Damen in der Reihe hinter mir werden keine großen Bartók-Fans mehr, aber sie reden lange über die Musik. Ziel erreicht.

Frankfurt: Le Grand Macabre
Weltuntergang im Stau

Es gibt gute Gründe, die einzige Oper von György Ligeti, „Le Grand Macabre“, zu entsorgen. Handelt es sich doch um nicht viel mehr als um Altherrenhumor mit viel Schenkelklopfen, Alkohol, einer saftigen SM-Szene, einem „reinen“ Liebespaar und noch mehr Alkohol. Die überdrehte Musik mit halsbrecherischen Koloraturen, hämischen Zitaten und brachialen Witzen mag Vergnügen bereiten, aber die Exzerpte in „Mysteries of the Macabre“ reichen eigentlich aus. Und doch würde etwas fehlen: die virtuose Passacaglia, die Autohupen-Ouvertüre und überhaupt die dadaistische Unverschämtheit, mit der der ungarische Komponist allen eine Nase dreht: Opernfans wie -kritikern, Liebhabern wie Gegnern der Avantgarde. Dass Ligeti aus dem Musikleben zu verschwinden droht, wie Eleonore Büning unkt (und mit ihm all jene, die die Musik zwischen 1945 und 1980 geprägt haben), kann ich nicht bestätigen. Bei Kagel könnte die Diagnose zutreffen, übrigens auch bei Scelsi, Boulez und wahrscheinlich bei Nono. Dass deren Musik im Konzertleben ins Hintertreffen gerät, hat auch praktische Gründe: Zum einen erfordert sie überproportional viel Probenzeit, zum anderen braucht es auch Raum für zeitgenössische Komponistinnen (s. Sonore Quartett). Ist das gut? Ist das schlecht? Feuer frei.

Die Frankfurter Aufführung am 18. November beginnt mit einer Ansprache des Intendanten Bernd Loebe, der an den gerade verstorbenen Bühnenmeister Tom Tetzel erinnert und um ein kurzes Schweigen in memoriam bittet. Das ist die Seele des Hauses und sie mag mitgeholfen haben, dass es schon sieben Mal zum Opernhaus des Jahres gewählt wurde. Gut gesungen wird im Ensemble seit jeher. Bei „Le Grand Macabre“ sollten mindestens Generalmusikdirektor Thomas Guggeis, Simon Neal (Nekrotzar), Peter Marsh (Piet vom Fass) und Anna Nekhames (Venus und Chef der Gepopo) erwähnt werden. Das gesamte Ensemble und der Chor sorgen für einen musikalisch ertragreichen Abend. Die Krone gebührt Regisseur Vasily Barkhatov und Bühnenbildner Zinovy Margolin: Aus der Autohupen-Ouvertüre folgern sie das Naheliegende und bauen eine dreistöckige Straßen-Kathedrale. Stimmt schon: Wenn der Weltuntergang naht, streikt die GDL und wir stehen im Stau. Und hupen.

Köln: Ensemble Resonanz
Gegen den Strich

Am Sonntag-Nachmittag des 5. November gastiert das Ensemble Resonanz in der Kölner Philharmonie – ohne Dirigent. Dafür mit Tabea Zimmermann, die als Solistin nur eine kurze „Trauermusik“ von Paul Hindemith präsentiert, bevor sie sich an das erste Pult der Bratschen begibt, gegenüber von Konzertmeisterin Barbara Bultmann. Es erklingt ein seltenes „Oktett“ von Georges Enescu. Die Streichorchesterfassung lässt beiden Raum für Soli und besticht auch sonst durch lockere Aufteilung der Stimmgruppen. Enescu schreibt hier eine noch tief in der Romantik verankerte Tonalität, die er nicht dehnt, sondern elegant auf den Prüfstein stellt. Das Ensemble Resonanz, das in seiner Heimatstadt Hamburg eine ergebene Fangemeinde besitzt, spielt mit dem ihm eigenen Feuer und großer Risikobereitschaft, da prinzipiell wenig Vibrato angewendet wird (was bei Enescu zu hinterfragen wäre). Der kantige Gegenpart hierzu ist das Divertimento von Grażyna Bacewicz, in dem die polnische Komponistin ihr neoklassizistisches Erbe gegen den Strich bürstet. Ein Geschenk für alle Streichorchester.

Köln: Ensemble Musikfabrik
Ein Gruß vom HB-Männchen

Ein neues Stück von Michael Jarrell stellt das Ensemble Musikfabrik im WDR Funkhaus in Köln am 19. November vor. Der Schweizer Komponist mit Standbein in Wien, wo er an der Universität für Musik und darstellende Kunst lehrt, schickt in seinen „4 îles d’un archipel“ Schlagzeuger Dirk Rothbrust buchstäblich auf vier Inseln rund um das von Enno Poppe dirigierte Ensemble. Von Steinen, die in ein Wasserbecken plumpsen, nimmt diese Reise ihren Ausgang und sie führt vorbei an idyllischen Buchten. Ruppigkeit und Extreme waren Jarrells Anliegen nie, er kenne „keine Scheu vor Poesie, Zauber und Magie“, schreibt Guido Fischer im Programmheft. Tatsächlich steht das von Wien modern, dem IRCAM, Musikfabrik und der Kunststiftung NRW in Auftrag gegebene Werk neben der Zeit, ermöglicht Luft zum Atmen. Dies tut auch Rebecca Saunders’ Violinduo „Breath“, eine klangsinnliche Streicherstudie, die von zwei Uraufführungen des rastlosen Georges Aperghis eingerahmt werden. Besonders das Blechbläserquintett „Heart Blowing“ bleibt in Erinnerung. Hier schnattern die Instrumente, meist gedämpft, immer wieder aber auch im grellen Forte. Wer noch das HB-Männchen kennt, hat den sound dieses Werkes im Ohr und den damit verknüpften Spaß im Gedächtnis.

Leverkusen: Jazztage
Gipfeltreffen mit John Scofield und Bill Frisell

Die Gitarrenlegenden John Scofield und Bill Frisell mit je eigenen Trios am 9. November bei den Jazztagen in Leverkusen – das muss zum Vergleich anstacheln. Lugen die Mitmusiker von Frisell bei Scofields Gig aufgeregt durch den Vorhang – „Look! It’s John Scofield!!“ –, kündigt Festivalleiter Fabian Stiens Frisells Trio als „Höhepunkt des Abends“ an. Scofield eröffnet mit „Blue Monk“, lakonischer und klassischer geht es kaum, aber im Laufe des Sets unterstreicht er seine Virtuosität, die bei Doppelgriffen gern auch einmal ins Schrille kippt. Das Trio ist auf seinen Frontmann ausgerichtet, während sich die Mannschaft von Bill Frisell auch räumlich als Ensemble begreift: Man steht eng zusammen und der still lächelnde Frisell lässt seinen Mitmusikern – dem phänomenalen Thomas Morgan am Bass und dem sehr feinen Schlagzeuger Rudy Royston – ausreichend Raum. Frisell hat zwar einen ähnlich wortkargen Blues im Programm wie der Kollege („Blues from Before“ vom aktuellen Album „Four“), entwickelt sich aber in eine ganz andere Richtung: zur kleinen Figur, zur Dur-Phrase, die er respektvoll dreht und wendet und nicht im Skalenwerk erdrückt. Hier ist deutlich mehr Musik als bei Scofield. Den Abend eröffnet das energetische Discovery Collective, fünf phantastische junge Musiker, die sich noch von der Erdenschwere des Viervierteltaktes befreien müssen, denn fliegen könnten sie. Die Jazztage Leverkusen sind in ihrem 44. Jahr hervorragend besucht, und man kann nur hoffen, dass sie auch jüngere Besucherinnen und Besucher anziehen. Zum Gipfeltreffen der Gitarristen kamen sie nicht.

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