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Wiebke Rademacher: Jenseits der Konzertsäle. Klassische Musik für breite Bevölkerungsschichten in Berlin um 1900 (Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 87), Franz Steiner Verlag

Wiebke Rademacher: Jenseits der Konzertsäle. Klassische Musik für breite Bevölkerungsschichten in Berlin um 1900 (Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 87), Franz Steiner Verlag

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Musik für die breite Masse

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Vom Vorhaben, Kultur in der Arbeiterschaft zu etablieren
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Wiebke Rademacher: Jenseits der Konzertsäle. Klassische Musik für breite Bevölkerungsschichten in Berlin um 1900 (Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 87), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023, 323 S., Abb., € 64,00, ISBN 978-3-515-13402-6

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In den Gründerjahren der Deutschen Demokratischen Republik, kurz DDR,  sollte auch der Bitterfelder Weg beitragen, eine neue „sozialistische Persönlichkeit“ zu formen. Unter dem Motto „Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ wurde zwischen 1959 und 1964 intensiv beraten, Kultur in der Arbeiterschaft zu popularisieren. Kein Geringerer als Walter Ulbricht rief dazu auf: „stürmt die Höhen der Kultur!“.

Damit folgte er einer langen Tradition in der Arbeiterschaft, in Sachen Kultur mit der Bourgeoisie gleichzuziehen. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 erlebten SPD und Arbeiterschaft einen enormen Aufschwung und damit ein wachsendes Selbstbewusstsein. Gerade in der Kultur fühlte man sich aber zurückgesetzt und benachteiligt. So bildeten sich bald zahlreiche Vereine und Institutionen, die sich einer besseren Bildung der Arbeiterschaft verschrieben. Vielleicht am auffälligsten war das bei Theater und klassischer Musik. Wie in der Musik dem Unwissen und Desinteresse abzuhelfen versucht wurde, zeigt diese Dissertation am Beispiel Berlins für den Zeitraum 1890 bis 1914. 

Die Autorin hat ihre Studie in zwei große Kapitel unterteilt, und das wird für den Leser gleich die erste Überraschung. Denn um das geistige Wohl der Arbeiter kümmerten sich nicht nur zahlreiche Initiativen aus der Arbeiterschaft, sondern ebenso zahlreiche aus dem Bürgertum selbst. Die Beweggründe waren ganz unterschiedlich, teilweise hochherzig-humanistisch, teils als eine patriotische Pflicht verstanden, die „vaterlandslosen Gesellen“ zu besseren Menschen und damit auch dem Staat geneigter zu machen. Das Schlagwort von der „Veredelung des Menschen durch Musik“ machte die Runde, worin eine „Lösung der sozialen Frage auf geistigem Gebiet“ gesehen wurde.

Hier wird, wie die Autorin zu Recht meint, ein „Superioritätsdenken der bildungsbürgerlichen Schicht“ erkennbar. Tatsächlich war deren Bemühen dann rundweg erfolgreich und erreichte in Teilen der musikfernen Arbeiterschaft eine größere Kenntnis bedeutender Komponisten und Liebe zur Musik. Die Autorin nennt vier große bürgerliche Vereinigungen, die sogenannte Volkskonzerte (Eintritt in der Regel 50 Pfennig) in großen Brauerei-, Fest- und Bürgersälen organisierten, an denen sich kurz vor dem Krieg sogar das Philharmonische Orchester beteiligte, ermöglicht durch einen 60.000 Mark-Zuschuss der Stadt für 35 Konzerte in drei Monaten!

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Wiebke Rademacher: Jenseits der Konzertsäle. Klassische Musik für breite Bevölkerungsschichten in Berlin um 1900 (Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 87), Franz Steiner Verlag

Wiebke Rademacher: Jenseits der Konzertsäle. Klassische Musik für breite Bevölkerungsschichten in Berlin um 1900 (Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 87), Franz Steiner Verlag

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Auf der anderen Seite dann ganz ähnliche Bestrebungen. Hier sollte mit Mitteln der Kunst „ein neues Menschenideal im Sozialismus“ erreicht werden. Einer der profiliertesten Köpfe, Leo Kestenberg, ein musikalisches Organisationsgenie bis weit in die Weimarer Republik, meinte mit Blick auf seinen Lehrer: „Busoni konnte es nicht begreifen, dass Sozialismus und Musik für mich eine unlösbare Einheit bedeuteten.“

Hier waren es die Freie und die Neue Freie Volksbühne, die sich ab 1913 zusammentaten, und der Berliner Volkschor, die eine kontinuierliche und ungemein erfolgreiche Musikpflege betrieben. Der vielbesuchte Volkschor führte zwischen 1900 und 1914 Haydns beide Oratorien, die bekanntesten Werke von Händel, Bach, Schumann, Brahms und Beethoven und dreimal Mendelssohns „Erste Walpurgisnacht“ auf, was zeigt, dass der schon grassierende Antisemitismus hier überhaupt nicht zu spüren war. Ähnliches vermittelt eine informative Übersicht über Konzerte, die von der neuen Freien Volksbühne veranstaltet wurden, allein 35 im Jahr 1913!

Wie sehr Musik begeistern konnte, zeigt eine Konzertkritik von Kurt Eisner zur Aufführung von Beethovens „Neunter“: „Die Veranstaltung war keine wohltätige Volksküchenschenkung bürgerlicher Gönner. Das Proletariat ist reif und stark geworden. Im Schicksal seiner Klasse erlebt es das Menschheitsdrama der neunten Sinfonie... Die Millionen hatten den Weg zur Neunten und die Neunte endlich den Weg zu den Millionen gefunden.“

Fast zwangsläufig glichen sich dabei die Formate im Lauf der Jahre an. Das betraf die Konzerte selbst, die Programme (Beethoven, Wagner, Mozart, Händel und Mendelssohn waren unbestrittene Spitzenreiter) und die äußere Form. Der in den Brauereisälen übliche Bierausschank und die Raucherlaubnis verschwand mehr und mehr, stattdessen Bestuhlung und geschlossene Türen nach Konzertbeginn. „Bürgerliche“ Künstler wie Richard Strauss oder Artur Schnabel gastierten trotz heftiger Kritik immer wieder bei den „Proletariern“. 

Wiebke Rademachers Untersuchung ist ein hochinteressantes Buch, in dem Berlin wohl exemplarisch für alle größeren Städte steht. Der Leser ertappt sich bei der neugierigen Frage, wie die bürgerliche Seite auf die mitunter schroffe Ablehnung reagiert hat: „Die Gesellschaft der Bourgeois und Spießbürger ziemt sich wahrlich nicht für einen modern empfindenden Arbeiter. Wenn unsere Arbeiterinnen schon wissen: mit Streikbrechern tanzt man nicht, so wissen wir: mit Bourgeois singt man nicht!“ Aber die „Neunte“ klang wohl beim Volkschor und beim Philharmonischen Chor allemal gleich!                                                               

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