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Wie dumm kann man eigentlich sein?

Untertitel
Journalist und Junkie: Jörg Böckems Lebensbeichte
Publikationsdatum
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Seit Wochen hält sich Jörg Böckem mit seiner Teilbiografie und Doppel- Lebensbeichte in den aussagekräftigen Buchverkaufslisten der Nation. Der Journalist und Junkie, wie er sich im Untertitel selbst beschreibt, geht schonungslos mit sich und seiner Drogensucht ins Gericht. Heroinspritzen auf der Toilette während die Kollegen in der SPIEGEL Redaktion warten. Pauschalist für verschiedene Magazine (unter anderem Tempo, Die Zeit) zwischen Abhängigkeit und Entzug. Mensch mit höchst literarischen Ergüssen, dann wieder Unmensch mit niederem Motiv: Woher kommt die Kohle für den nächsten Schuss. Jörg Böckem ist bei der Schilderung seiner Lebens-Sucht nicht zimperlich. Beginnend in der Jugend versucht er früh Gründe für seine latente Suchtgefahr zu entdecken. Ohne Erfolg. Trotz Entzugstherapien, Klinikaufenthalten und Gefängnis schaffte er den Absprung nicht. Dennoch gelingt ihm stets eins: Selbst im größten Drogenwahn bleibt er Journalist, schreibt Texte, die er pünktlich abliefert und hält seine Sucht vor Kollegen geheim. Sein Doppelleben zwischen Junkie und Journalist erreicht sogar einen zynischen Höhepunkt: Jörg Böckem interviewt nicht ohne sich vorher noch einen Schuss zu setzen den ex-heroinabhängigen Iggy Pop.

Dass das alles irgendwann tragisch endet und nur mit Glück untödlich, stellt Jörg Böckem erst fest, als er seine Lebensgefährtin im Drogenrausch fast zu Tode würgt.

Eine weitere der vielen Stellen des Buches, an denen man sich – vorsichtig formuliert – bei einer stillen Bewunderung für Jörg Böckem ertappt, obwohl dieses Leben, das nie weit von der Überdosis entfernt ist, kein Leben zu sein scheint. Bewunderung, weil er von einem Leben erzählt, das subkultureller nicht sein könnte, das unkonventionell anmutet, dass Freiheit suggeriert aber letztendlich nur ein Gefängnis aus Sucht und Doppelleben darstellt. Bewunderung ferner, weil es schier unvorstellbar ist, das Jörg Böckem bei all den Lebensumständen und Entzug- beziehungsweise Suchtqualen noch halbwegs arbeiten konnte, überhaupt: denken konnte. Jörg Böckem schleift den Leser durch Gefühlszustände, die sich von ekelhaft bis wunderbar erstrecken. Von Momenten, in den man hektisch weiter blättert und ihm helfen möchte, zum Leben zurück zu finden, zehn Seiten weiter aber erneut mitten im Suchtsumpf steckt. Und dabei ständig rufen möchte: „Wie dumm kann man eigentlich sein, Böckem?“

Ein Buch, das in die eigene Psyche führen kann, das nicht auf Effekthascherei setzt und Jörg Böckems durchaus respektable Karriere als Musikjournalist in den Mittelpunkt stellt. Zudem findet Böckem eine interessante Balance zwischen der Beziehung Autor/Leser: Abneigung und Hingabe, Mitleid und Unverständnis, Sorge und Belanglosigkeit, Trauer und Freude. Jörg Böckem ist seit drei Jahren clean.

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