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Eine Vortragssituation in relativ kleinem Rahmen.

Workshop mit Julia Goldstein im Steinway-Haus Stuttgart. Foto: Andrea Mentrup

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Begabte richtig fördern: Worauf kommt es an?

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Eindrücke vom Workshop mit Julia Goldstein im Steinway-Haus Stuttgart
Vorspann / Teaser

Der Tonkünstlerverband Baden-Würt­temberg hat zum Thema „Begabte Kinder und Jugendliche richtig fördern: Worauf kommt es an?“ am 17. Februar 2024 zu einem Workshop mit Referentin Julia Goldstein in das Stuttgarter Steinway-Haus eingeladen. Prof. Hans-Peter Stenzl begrüßte die Teilnehmenden und stellte eine spannende Begegnung mit einer außerordentlichen Künstlerin und Pädagogin in Aussicht. Julia Goldstein, selbst aus einer international angesehenen Musikerfamilie stammend, machte schnell deutlich, dass dieses Thema nur mit Konzept, handwerklichem Können und Disziplin zu meistern ist und heutige gesellschaftliche Entwicklungen dem oft entgegenstehen. 

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Von Anfang an suchte sie den Dialog mit den Kursteilnehmern und gab Fragen in die äußerst interessierte Zuhörerschaft: Wann empfindet man ein Kind, das uns anvertraut wird, als „begabt“? Welche Eigenschaft der musikalischen Begabung wurde als Erstes auffällig? Gibt es Schwierigkeiten im Unterrichtsablauf, des heimischen Arbeitens oder der Sozialisation? Sind solche Schüler*innen wissbegierig? Gibt es ein Interesse speziell für die Musik des Instruments, welches unterrichtet wird? Üben solche Schüler*innen zu Hause täglich und aus eigenem Antrieb oder müssen die (Groß-)Eltern nachhelfen? 

Schnell stellten sich Erfahrungsberichte über Freud und Leid in der Unterrichtspraxis bei den Anwesenden ein. Klar wurde auch, dass Schüler*innen, die eine besondere Begabung erkennen lassen, eine große Herausforderung und Verantwortung für Lehrende darstellen können, wobei das Zusammenwirken aller Beteiligten organisiert werden muss und man als Lehrkraft gelegentlich auch Ansprechpartner über den familiären Kreis hinaus sein wird.

Zudem stellte Julia Goldstein zur Diskussion, was genau wir jungen Musiker*innen heute vermitteln möchten. Sie ging daraufhin ein auf instrumentale Entwicklungen, Traditionen und Entwicklung des Geschmacks, das hohe Niveau der führenden Künstler*innen von heute, den Zeitgeist in unserer Gesellschaft, eine minimalistischer werdende Sprache, die elektronische Kommunikation und auf einen möglichen Unterschied zwischen den Definitionen „Begabung“ und „Talent“. Andere wichtige Themen waren das Umfeld der begabten Kinder und Jugendlichen in allen Erscheinungsformen, die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit von talentierten Kindern, ihr Temperament, ihre Einstellung zum Lernen, Kritikfähigkeit und die Bereitschaft im Rahmen der regelmäßigen Arbeit am Instrument auch „Opfer“ zu bringen.

Nach der Mittagspause gab es eine sehr kurze musikalische Kostprobe mit den Zwillingen Kolja und Wanja Brychkov, die sich mit „Der Kuckuck und der Esel“ von Carl Friedrich Zelter und einem russischen Volkslied, die „Lus­tige Hirtenflöte“ vierhändig am gro­ßen Steinway-Flügel vorstellten. Dabei konnten sie ein beeindruckendes Beispiel für einen gelungenen Start am Klavier geben.
Anhand dieses Eindrucks befasste sich Julia Goldstein nun mit den Aspekten eines pianistischen Aufbaus von Anfängern: „Bei den Anfängern ist es sehr wahrscheinlich am entspanntesten, ein Talent zu fördern. Hier haben Sie die ‚freie Hand‘, Ihre Unterrichtsmethoden und Konzepte zu verwirklichen, da das Kind noch keiner Umstellung bedarf. Begabte Kinder können die unterschiedlichsten ‚Start‘-Eigenschaften mitbringen: Für manche kann es nicht schnell genug gehen, für andere ist das Lernen zu langweilig – sie wollen sofort spielen; die Dritten sind noch zu verspielt, wodurch man sie zunächst auf ein ‚spielerisches‘ Gleis stellen sollte. Hier ist es wichtig, die passende Lern-Schule zu finden“. 

Sicher spielt hier auch die Frage des Talente Entdeckens eine nicht unbedeutende Rolle. In unserer Gesellschaft sei das nicht ganz unproblematisch, so Goldstein, da allgemeinbildende Institute und Musikschulen nicht unbedingt auf spezielle Förderung von Talenten ausgerichtet seien und der Aspekt „alle sind gleich(-berechtigt)“ oft im Vordergrund steht. Hier gab die Referentin das Thema: „Wie würden Sie ein angekündigtes sogenanntes begabtes Kind testen?“ in die Runde. Dazu gab es viele Erfahrungsberichte.

Hat man es mit der Förderung eines „eindeutigen“ Talentes zu tun, ist auf ein geeignetes Repertoire für alle Gelegenheiten zu achten. Natürlich sollten unbedingt mit kleinen Vorspielen aller Art Bühnenerfahrung gesammelt und Wettbewerbsvorbereitungen langfristig angegangen werden. Weitere Themen, welchen sich die Referentin widmete: Gilt man als „nicht begabt“, wenn man längere Zeit braucht, um zum Beispiel Texte zu erlernen? Muss ein „sensibler Geist“ den ganzen Anforderungen von Prüfungen und Wettbewerben entsprechen, um als „begabt“ eingestuft zu werden? Soll man Talente mit Druck fördern?
In einer Art Fazit stellte die Referentin fest: „Es gibt sehr viele Faktoren, die bei einer Förderung von Talenten wichtig und zu berücksichtigen sind. Es ist immer ein ‚Paket‘, welches aus ganz individuellen Faktoren besteht und auf die ‚mitgebrachte‘ Konstellation der ‚Mitgift‘ ganz persönlich abgestimmt werden sollte. Das, was für einen talentierten Schüler gut ist, kann für einen anderen nicht unbedingt förderlich sein.“ Für musikpädagogische Lehrkräfte ist und bleibt es immer ein ‚Balanceakt‘, denn auch die neuen Generationen von Kindern und Jugendlichen verändern sich ständig: Nichts ist beständiger, als der Wandel!“ Und zum Abschluss der Rat: „Nicht den Zeitpunkt verpassen, die Talente weiterziehen zu lassen!“ Nicht selten erhalten sich so lebenslange Freundschaften. Anschließend viel Applaus für Julia Goldstein!

Alles in allem eine wunderbare und äußerst anregende Begegnung mit einer sehr erfahrenen Pädagogin, geeignet, die eigene Wahrnehmung des Themas zu überprüfen oder zu erweitern und mit Kolleg*innen diesbezüglich ins Gespräch zu kommen. Der Tag brachte viele Impulse und war insofern viel zu kurz. Es bleibt zu hoffen, dass Julia Goldstein auch weiterhin Einblicke in ihre „Werkstatt“ gibt. Als vorrangig wäre hier eine Einführung in die von ihr vermittelte Pianistik anzusehen. Prof. Stenzl verabschiedete die Runde mit einem Zitat von Rainer Maria Rilke: „Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.“

Der Autor des Textes, Siegfried H. Pöllmann, ist Workshop-Teilnehmer, Violinpädagoge, Musik­journalist, ESTA-Vorstandsmitglied und DTKV Regionalvorsitzender.
 

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