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"Schildkrötensuppe" war das letzte (von der Pianistin Pi-hsien Chen gesprochene) Wort des ersten Stückes des gestrigen 17-Uhr-Konzerts in der Orangerie. In "Shellbum Album" beschreibt Manos Tsangaris (der die 1992 entstandene Komposition in einem Gespräch mit mir als "Gelegenheitswerk" bezeichnete) die Auftauchmomente einer (offenbar recht eloquenten) griechischen Wasserschildkröte. Und da Tsangaris (wie er mir ebenfalls mitteilte) seit 2002 keine Rezensionen seiner Werke mehr liest, werde ich im Folgenden versuchen, eine unreflektierte Hasstirade, die sich gleichsam gegen sein Gesamtwerk in toto aussprechen möge, als wissenschaftliche Rezension zu verkaufen, gerade weil der eigentlich sympathische Tsangaris davon nie erfahren wird.
Obwohl, nein, werde ich nicht. Keine Lust.
Dabei gab es in den gestrigen Konzerten sehr wohl Lustvolles auf die Ohren. Eine wirkliche Entschädigung für vieles bisher Gehörte und Ertragene. Im ersten Konzert beispielsweise penetrierten die virtuosen Darmstadt-Dozenten Carin Levine (Flöte), William Forman (Trompete) und Marcus Weiss (Saxophon) in Vykintas Baltakas "Unvollendeter" ihre Instrumente auf virtuos-trashig-angenehme Art und Weise. Ein echter Hörgewinn.
Das Konzert stand gleichwohl (aber das betraf primär die von mir intuitiv schlecht gewählte Sitzreihe weiter hinten) unter keinem guten Stern, was das Publikum anbelangt. In einer Umbauphase schlug eine koreanische Konzertbesucherin plötzlich einen älteren, frisurspezifisch unterbelichteten Herrn mit dem Programmheft auf dem Kopf. Zunächst hielt ich das noch für eine uralte traditionelle, für uns Europäer eben ungewöhnlich-kuriose asiatische Begrüßung. Als die junge Frau dann aber mit dem zerknüllten Programmheft nach ihm warf und ihn dann noch so heftig am Kragen zog, dass er fast umgefallen wäre, war in etwa klar, worum es ging.
Wenige Minuten später machte ein ohnehin sehr störend-geräuschvoller Fotograf auf sich aufmerksam, weil er noch halb im Konzertsaal ein Telefongespräch annahm und fröhlich losplauderte.
Um 20.30 Uhr traten dann die Neuen Vocalsolisten Stuttgart auf, um ihr einzigartiges Können zu beweisen. Der Höhepunkt des Konzerts war Annette Schmuckis "träumen/bergen. 17 Reusen" für sechs Stimmen (2007 komponiert), das so gaga-dada-humorvoll, ausgehört, harmonisch interessant, formal spannend und facettenreich war, wie kein anderes mir bekanntes Vokalwerk der letzten Jahre. Schade, dass Annette Schmucki nicht anwesend war. Ich hätte ihr gerne gratuliert.
Im Vergleich zu dem wirklich schlechten, viel zu langen, letztlich peinlichen und zu Recht ausgebuhten Werk von Gerhard Stäbler ("…ins Offene…" - schon dieser schrecklich abgegriffene Titel spricht Bände…) wirkte dann das letzte Werk des Abends (nach einem nichtssagenden Stück von Tatjana Kozlova) wieder wie eine Offenbarung. In Mischa Käsers "Präludien 1. Buch" (2006) reizt der Komponist die überragenden Fähigkeiten der Vocalsolisten mit viel Witz und Intelligenz aus. Und nach einem lustigen "a-e-i-o-u"-Staccato-Reigen in einem der Präludien war mir dann auch klar, warum die Vocalsolisten Vokalsolisten heißen…
In diesem Moment findet gerade eine Podiumsdiskussion mit Wolfgang Rihm und Brian Ferneyhough statt. Um 15.30 Uhr darf ich dann mein Quintett präsentieren. Mal sehen, was passiert.