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Das Volksfest in Darmstadt ist vorbei.
Nein, keine Angst, die Ferienkurse für Neue Musik dauern noch bis zum 19. Juli. Gemeint ist das Heinerfest, dessen Riesenrad nach zweitägiger Dekonstruktions-Arbeit soeben abtransportiert wurde. Vorgestern genoß ich noch mit zwei deutschen und einem kanadischen Kompositionskollegen von dort aus die Aussicht auf das bunte Darmstädter Treiben, womit freilich wiederum das Heiner-, nicht das Neue-Musik-"Fest" gemeint ist.
Das Abendkonzert gestern (20.30 Uhr) in der Orangerie bringt mich in Verlegenheit. Ich reagiere selbst eigentlich gerne empfindlich auf altbekannte "früher-war-alles-besser"-Weisheiten. Aber gestern zeigte sich anhand eines 40-jährigen Werkes von Storlheinz Kackhausen, dass Darmstadt doch noch unvergessliche Augenblicke bieten kann. Das ensemble recherche interpretierte die radikal aktuell klingende "Prozession" von Stockhausen so intensiv, rituell, liebevoll und perfekt, dass ich nicht anders konnte, als mich erschüttert bei einigen Musikern des Ensembles, die gerade noch ihre präparierten Instrumente von Kontaktmikrophonen usw. entsorgten, huldigend zu bedanken.
Stockhausen 1967. Da war er - der im Dezember 2007 starb - noch nicht gaga. Interessant ist, dass sich in "Prozession" allerdings schon zwei spätere Irrwege Stockis (Größenwahn und Esoterik-Schwachsinn) abzeichnen: Die Musiker werden in der Partitur dazu angehalten, auswendig (!) aus früheren Stockhausen-Werken zu zitieren (was er als völlig selbstverständlich voraussetzt). Der rituelle Charakter des Stückes, der kultische Klang vom verstärkten, mit Mikro abgehorchten Klang des schwingenden Tam-Tams deutet dann bereits (für mich schmerzvoll) auf den späteren Sirius-Lucifer-und-Co-Mist hin.
Heute Mittag präsentierten wieder junge Kollegen ihre Werke. Die Rihm-Studentin Eun Sun Lee aus Südkorea stellte ein hervorragendes Chorwerk vor, in dem sie einen Goethe-Text musikalisiert, der in ihrer Vertonung exakt, subtil, humorvoll und kein bißchen anbiedernd das Verhältnis von Entfremdung und Aneignung, von zweierlei Identität (Südkorea vs. Deutschland) ihrer eigenen Komponistinnen-Persönlichkeit widerspiegelt. In ihrem aufregenden Chorwerk verwendet sie einige Eierschneider, weil die sie an das Koto (eine große, traditionelle japanische Zither, die gestern auch in einem Konzert mit einem traurig-öden Klaus-Lang-Stück zum Einsatz kam) erinnert hätten. Das Klangergebnis ist sehr gelungen.
Ich melde mich zu Wort, lobe sie, stelle eine ernsthafte Frage - kann mir dann aber doch eines nicht verkneifen: "Wenn du einen Eierschneider als eine Art Koto betrachtest, könntest du dir dann auch vorstellen, ein Koto zum Schneiden von Eiern zu verwenden?"