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Gestern war ich Zeuge des vielleicht schlechtesten Konzerts (09.07.08, 17 Uhr, Darmstadt, Sporthalle am Böllenfalltor), das ich jemals gehört habe. Das betrifft einmal mehr keineswegs die Qualität der Interpreten (es spielte das souveräne und gut vorbereitete Ensemble ascolta), sondern die Werke selbst. Und man sollte so verantwortungsvoll sein, dieses Elend beim Namen zu nennen. Die Komponisten des gestrigen Konzerts heißen: Marta Gentilucci, Annesley Black, Eduardo Moguillansky und Nikolaus Brass.
Die Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt waren ja eigentlich derjenige Ort, an dem man die Frage der Geschichtlichkeit klingenden "Materials" (ein typische Begriffsverwendung der "Darmstädter Schule") einst theoretisch "erfand", zumindest aber immer wieder thematisierte – woraus für mich folgert, die Komponisten Neuer Musik mögen sich (wie auch immer) diesem Problem stellen; und zwar: kreativ, eigenständig, kritisch (was keineswegs humorfrei, verknöchert, bieder, belehrend und verkopft heißen muß; soll ich positive Beispiele nennen?), vielleicht sogar provokant. Doch davon sind die bisher in Darmstadt erklungenen Werke meilenweit entfernt und das Beispiel von gestern zeigte dies ganz besonders deutlich.
Natürlich, die Hochphase der allgegenwärtigen Problematisierung kompositionsgeschichtlichen Materials und seiner Semantik ist längst vorbei, woraus aber doch nicht die absolute Wahllosigkeit (die schlechteste positive Freiheits-Variante), die in Form sich kuschelig-bequem wähnender und mehr und mehr an sich selbst verblödender Neue-Musik-Topos-Katalog-Verwendungs-Mechanismen peinigend und fistelstimmig klingend sich äußert, folgen darf. (Man zähle die "sich"-s in diesem Satz zusammen und trauere anschließend eben doch jenem Philosophen nach, der das "sich" im Satz immer so spät zu setzen sich genehmigte und gegen den heute von denen am schlimmsten polemisiert wird, die ihn aufgrund ihrer überragenden Dummheit erstens nicht gelesen, und wenn, dann nicht verstanden haben. Ihn, Teddy.)
Das gestrige Konzert in der (die depressive Stimmung des Publikums adäquat widerspiegelnden) Sporthalle im Neue-Musik-Grau bot vier große Unverschämtheiten, die so uninspiriert, so mutlos, so anti-hörpsychologisch komponiert, so gewollt und so dürftig waren, daß selbst ein sich mit Urteilen sonst eher zurückhaltender Kollege neben mir traurig feststellte: "Schade, daß Ohren keine Schließmuskeln haben."
Man sollte nicht unerwähnt lassen, daß es sich dabei um ein "Preisträgerkonzert" von vornehmlich jungen Komponisten handelte. Einzig Nikolaus Brass fiel aus dem Rahmen. Allerdings auch nur, was sein Geburtsjahr (1949) betrifft. Im Programmtext seines Ensemblestücks "abgewandt" (und das Wortspiel-Angebot, das mir dieser Titel geradezu aufdrängt, schlage ich hier - menschenfreundlich, wie ich bin - sogar elegant aus) erwähnt Brass (peinlich genug), daß er mit Helmut Lachenmann befreundet ist. Wahrscheinlich weiß Lachenmann davon selbst nichts.
Ich - der zu Verschwörungstheorien sonst nicht neigt - fühle mich wie der unfreiwillige Teilnehmer in einem Experiment, in dem es darum geht, (ästhetische) Toleranzgrenzen zu testen. (Die Frage, für das sich vermutlich irgendein heimlich operierendes Team aus Psychologen der Universität Göttingen interessiert, lautet: "Bei welcher Dosierung schlechter Musik beginnen junge, unverbrauchte und innovative Komponisten zu schreien?") Also: Hallo, ihr da oben, ihr könnt den Versuch jetzt abbrechen, euer Proband hat keine Lust mehr! Aber wahrscheinlich ist dieser Hilferuf entweder sinnlos oder ich werde demnächst (wie die sich wehrenden Teilnehmer im Film "Das Experiment") Opfer tätlicher Übergriffe. Würde mich nicht wundern. Wenn Sie in den nächsten Tagen hier keine Texte mehr lesen sollten: Sie wissen, was mit mir geschehen ist…
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