Für die nmz war am Wochenende der Komponist und Musikwissenschaftler Arno Lücker in Leipzig unterwegs. Dort fand das Symposium mit dem Titel „Musik & Gegenwart 2008“ statt. Das wirkt zwar vom Titel her nicht unmittelbar interdisziplinär, war es aber, so unser Korrespondent.
Das interdisziplinäre Symposium „Musik & Gegenwart 2008“ in Leipzig
In vielen Bereichen der Kunst und der Wissenschaft ist Interdisziplinarität nach wie vor ein beliebtes Signum, dem überdies immer noch der Hauch des „Neuansatzes“ positiv anhaftet. Aber Interdisziplinarität will gelebt werden, braucht kompetente Projekt-Initiatoren und, unwissenschaftlich gesehen, auch eine glückliche Hand. Das gelungene Beispiel eines solchen interdisziplinären Symposiums, in dessen Mittelpunkt (gesellschaftliche) Fragen der sich angeblich doch stets so abschottenden Neuen Musik standen, war am vergangenen Wochenende an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig in Kooperation mit der Gesellschaft für Musik und Ästhetik unter der Leitung von Claus-Steffen Mahnkopf zu erleben.
„Josef Ackermann oder ein kleiner Versuch über das falsche Bewusstsein“ war der Titel des Einführungsvortrages, in dem Claus-Steffen Mahnkopf aus aktuellem Anlass von einer radikalen Kritik am falschen Lächeln des Deutsche-Bank-Chefs ausging, um die aktuelle Ambivalenz der von Hegel und Marx geprägten Formulierung des „falschen Bewusstseins“ aufzuzeigen. Diese bestünde beispielsweise darin, dass selbst ein Ackermann inzwischen wisse, was es damit auf sich habe, um gerade nach dem Scheitern des Neoliberalismus seinen virtuellen Gegnern (denen er sich zu stellen, clever, nie wagen würde) besser begegnen zu können. Die Übertragung vom Scheitern des Finanzmarktes auf den boomenden Kunstmarkt (Damien Hirst) und seinem grinsendem Zynismus geriet zum Ausgangspunkt der anschließenden lebhaften Diskussion – und spann sich gleichsam zu einem der roten Fäden des Symposiums.
In seinem Referat „Zur gesellschaftlichen Lage der populären Musik“ widmete sich der Philosoph und Soziologe Roger Behrens (Hamburg) Inbildern der Popmusik und ihrer chronologischen Verortung. Der französische Komponist Mark André (Berlin) berief sich in der Schilderung eigener, ihm aktuell wichtig erscheinender ästhetischer Ansätze auch undogmatisch auf ethisch-religiöse Fragen seines eigenen Komponierens.
Gegen die Verarmung wirklich sinnlicher Realitätsbezüge wehrt sich Alba D’Urbano (Leipzig), die in der Präsentation künstlerischer Arbeiten von ihrem „Hautnah“-Projekt und von den teils kontroversen und körperfeindlichen Reaktionen von Politik und Presse berichtete, bevor der Filmwissenschaftler Oliver Fahle (Weimar) den Fokus auf den „Film der Zweiten Moderne“ lenkte. Anschließend diskutierte man Versuchsanordnungen der Übertragung auf die Neue Musik, die gewissermaßen wieder (kritische) „Wege des Erzählens“ (ähnlich dem Film der Zweiten Moderne, den Fahle unter der Rubrik „Translationsbild“, das auf das klassische Aktionsbild, das Denk- und das Exzessbild der postmodernen Filmästhetik seiner Ansicht nach folge, subsumiert) zuließe, ohne doch wieder in ein postmodernes anything goes zu verfallen.
Das abendliche Kammermusikkonzert im großen Saal der Hochschule war mehr als nur eine kreative Zutat zu den luziden Diskussionen des Tages. Die Zusammenstellung der Werke von Elliott Carter, Felix Pätzold, Stefan Beyer, Ming Tsao, Mark André und Johannes Kreidler überzeugte in ihrer aufregenden Farbigkeit und mittels einer – von existenzialistischer Stille bei André („iv 2“ für Violoncello solo), über Klangsuche bei Tsao („One way street“ für Ensemble), bis zum konzisen Instrumentationswitz bei Kreidler („3300 Klänge“ für Ensemble) reichenden – kunstvollen Durchdachtheit; und nicht zuletzt aufgrund der akribischen Vorbereitung der Musiker unter der Leitung von Reinhard Schmiedel, der selbst am Klavier das fast „Jugendwerk“ zu nennende Quintett des 1997 „nur“ 89 Jahre alten Elliott Carter mit aufführte. Ein Konzert, wie man es sich andernorts jederzeit wieder wünschen würde.
Der zweite Symposiumstag begann mit der jungen Poetin Mara Genschel (Leipzig/Berlin), die in ihrer frappierenden Lyrik-Performance nicht nur überaus musikalische Töne anschlug, sondern zuvor Ansätze einer eigenen Poetologie umrissen hatte. Anschließend konstatierte Johannes Kreidler (Berlin), dessen Ensemblestück „3300 Klänge“ am Abend zuvor erklungen war, dass die Suche nach neuen Klängen, aller Unkenrufen zum Trotz, längst nicht abgeschlossen, sondern gerade erst richtig im Gange sei, so dass irgendwann die gesamte akustische Realität und Virtualität, beispielsweise als „Soundfiles im Konzertsaal“ (so der Titel seines Referats) Platz nehmen werde.
Die abschließende Lesung aus dem Roman „Laura oder die Tücken der Kunst“ des auf mehreren künstlerischen Gebieten tätigen Pierangelo Maset (Lüneburg) stach auf humorvolle, letztlich aber überaus ernste, fast melancholische Weise zielsicher mit dem Finger in die Wunde, die die Perversitäten des Finanz- bzw. Kunstmarktes aufgerissen haben. Damit nahm Maset, am Ende einer höchst abwechslungsreichen Veranstaltung mit wirklichem Erkenntniswert, den Roten Faden vom Beginn des Symposiums auf, so dass die Frage, wie Kunst, wie Neue Musik sich in einer Welt zurecht finden könnte, ohne dabei weiterhin und in noch größerem Ausmaße selbst den zynischen Marktmechanismen zu gehorchen, klarer als zuvor im Raum stand. Die Antworten gehören dabei freilich der Zukunft.