Anfang Dezember erreichte die 600-Jahr-Feier der Universität Leipzig in einer offiziellen Feierstunde mit Politprominenz am Vormittag und einem Festkonzert für die Öffentlichkeit am Abend ihren Höhepunkt. Das Jubiläum fand in einem nicht unproblematischen Umfeld statt; prägt doch einerseits die deutsche Hochschullandschaft seit geraumer Zeit eine Studentenschaft, die –eingezwängt in die Bologna-Maschinerie– ihren Unmut lautstark äußert über chronische Unterfinanzierung, schlechte Betreuung und mangelnde Infrastruktur für Lehre und Forschung.
Selbst Bundespräsident Köhler kann sich dem nicht entziehen und mahnt: "Wer im Bund und vor allem in den Ländern geglaubt hat, man könnte das Hochschulwesen kostenneutral umbauen, ja vielleicht sogar durch die Einführung der Bachelor-Studiengänge Geld sparen, der sei daran erinnert: Deutschlands Aufwendungen für den Hochschulbereich sind seit Jahren unterdurchschnittlich."
Zum anderen ist der Ort, an dem das Jubiläum stattfand, Streitobjekt Nummer 1 in Leipzig. Seit Jahren debattiert die Universität Leipzig mit dem Paulinerverein und der Stiftung Universitätskirche St. Pauli über Namen und Nutzung des Nachfolgebaus des 1968 gesprengten Gotteshauses. Erst Generalbundesanwältin Monika Harms konnte einen Namens-Kompromiss herbeiführen: „Paulinum - Aula-Universitätskirche St. Pauli“ soll das Gebäude künftig heißen. Da es sich noch in der Bauphase befindet, waren auch die Feierlichkeiten erheblich eingeschränkt. So mussten die seit einem Jahr vorbereiteten VIII. Universitätsmusiktage ersatzlos gestrichen werden, lediglich für den Festakt und die Konzerte am Abend wurde die Baustelle „stubenfein“ hergerichtet. Von Baustellenatmosphäre war nichts zu spüren, für einen Tag wurde ein würdiger Konzertsaal hergezaubert, dessen Unterhalt offenbar so kostspielig war, dass ein Betrieb über mehrere Tage hinweg nicht zu finanzieren gewesen wäre.
Die Leipziger Universitätsmusik gehört seit Mitte des 17. Jahrhunderts, seit Werner Fabricius zum ersten »Director musices Paulini« berufen wurde, zum nicht wegzudenkenden Bestandteil der sächsischen Bildungsstätte. Fabricius’ Nachfolger waren die späteren Universitätsmusikdirektoren Johann Schelle (1679 - 1701), Johann Kuhnau (1701 - 1722), Johann Adam Hiller (1778 - 1785) oder Max Reger (1907 - 1908). Im 20. Jahrhundert übten Hermann Grabner, Friedrich Rabenschlag, Max Pommer und Wolfgang Unger das Amt aus. Auch berühmte Musikstudenten waren an der Leipziger Universität eingeschrieben: Georg Philipp Telemann, Carl Philipp Emanuel Bach, Robert Schumann und Richard Wagner. Johann Sebastian Bach erhielt regelmäßig Kompositionsaufträge und Felix Mendelssohn Bartholdy war Ehrendoktor der Bildungsstätte.
Musik und Universitätsbetrieb sind bis heute eng miteinander verbunden. Dem heutigen Universitätsmusikdirektor David Timm war am 2. Dezember sein Ärger über die geplatzten Universitätsmusiktage nicht anzumerken. Ihm und seinen Ensemblen wurden Höchstleistungen abverlangt: Das Multitalent leitete an diesem Tag eine Uraufführung und eine Sinfonie-Kantate gleich zwei mal. Hinzu kam kurz vor Mitternacht ein fulminantes Jazz-Konzert mit Timms eigenen Arrangements für die LeipzigBigBand, die Vocal Jazz Group tonalrausch und das Pauliner Kammerorchester. Bach und Händel wurden selten so genial adaptiert.
Doch im Mittelpunkt des Abends stand das Festkonzert. Die Programmgestaltung fühlte sich der universitären Tradition verpflichtet. So wurde dem renommierten Leipziger Komponisten Bernd Franke ein Kompositionsauftrag erteilt, der ihm eine tiefe Beschäftigung mit Fragen nach Zeit und Raum, Bestand und Veränderung, Freiheit und Bildung abverlangte. Franke entschied sich schließlich zur Vertonung von Texten, zum einen für einen Ausschnitt aus Shakespeares Hamlet (Akt 2, Szene 2, Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft!...) und zum anderen für das Gedicht „Immerdar“ von Hans-Ulrich Treichel, das der bekannte Schriftsteller und Lyriker eigens für die Komposition schrieb. Treichel war viele Jahre Librettist von Hans-Werner Henze und lehrt seit einiger Zeit am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Zudem diente Bernd Franke das Gedicht „Tempo e tempi“ von Eugenio Montale als Inspiration für das Interludium seiner Komposition „Memoriam – Tempo e tempi” für Chor und Orchester. Die zwei Sätze des Werkes, in denen die beiden Texte verarbeitet wurden, sind in Prolog, Interludium und Epilog eingebettet. Franke nutzt die Raumstruktur, bringt Ferninstrumente wirkungsvoll mit einer Art Echo-Effekt zum Einsatz und unterstreicht im ersten Satz das Schlichte, Liedhafte und Einfache im Gedicht von Treichel. Während im Interludium das Tempo rasant abfällt, verdoppelt es sich im zweiten Satz, der Shakespeare’sche Text wird so zu einer Liebeserklärung an den Menschen. Das zwanzigminütige Werk wird vom Publikum mit reichlich Applaus bedacht.
Der zweite Teil des Abends gehörte Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Biographie eng mit Leipzig verbunden ist. Die Sinfonie-Kantate "Lobgesang" war einstmals ein Auftragswerk der Stadt Leipzig und wurde 1840 in der Thomaskirche uraufgeführt. Mendelssohn schrieb das Oratorium anlässlich der Feiern zum 400. Jubiläum der Erfindung der Buchdruckerkunst. Dass es jetzt, zur 600-Jahrfeier der Universität Leipzig in der wiedererbauten Universitätskirche erklang, kann kein Zufall sein. Das im Lobgesang verarbeitete Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ wird wohl selbst die pragmatischsten unter den Universitätsangehörigen berührt haben. Ob es die Universitätsleitung dazu führt, souveräner mit ihren Wurzeln umzugehen, bleibt dahingestellt.
„Immerdar“
Alles hat seine Zeit,
der Wind, das Laub,
der Schnee und die Krähen,
ein Jegliches hat seine Zeit,
auch das, was geschrieben steht,
auch die Worte, Gebete,
der Schrei, das Gelächter,
auch die Zeit hat ihre Zeit,
der Himmel, die Wolken,
wie alles und alle, jeder und jede,
der Herzschlag, der Atem,
das Schnurren der Katze,
was wächst, was gedeiht,
was stirbt, was verdirbt,
die vor uns waren,
die nach uns kommen,
das Haus, das wir bauen,
der Sturm, der es einreißt,
der Tag, den wir loben,
das Jetzt und das Niemals
hat seine Zeit und auch
das Immerdar.
Hans-Ulrich Treichel (geschrieben im Januar 2009)