Oft trifft der Volksmund den Nagel auf den Kopf. „Glasknochenkrankheit“ nennt er jene Behinderung, die bei Medizinern unter dem trockenen Begriff Osteogenesis imperfecta firmiert. An dieser Erbkrankheit litt auch der große Jazzpianist Michel Petrucciani. Sein Talent wohnte in einem verwachsenen, nicht mal einen Meter großen Körper, dessen Knochen bei Druck ebenso leicht brachen wie Glas. Petrucciani wusste, dass er früh sterben würde. Und es scheint, als habe er angesichts dessen sein Leben mit doppelter Intensität geführt. In der neuen Dokumentation „Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit“ stellt sich der rasende Lebenshunger jedenfalls als der auffälligste Zug dieses Künstlers dar.
Regie führte der Brite Michael Radford, der bereits preisgekrönte Streifen wie „1984“ oder „Il Postino“ gedreht hat. Er ist Petrucciani nie persönlich begegnet. Seine Dokumentation über den französischen Pianisten kombiniert Videoaufnahmen und Fotos sowie alte und neue Gespräche mit Zeitzeugen.
Den roten Faden bildet die Biografie. Zunächst erzählen Vater und Bruder, beide Jazzmusiker, von Petruccianis Kindheit und dem Alltag mit der Krankheit. Dass der Junge täglich zwölf Stunden Klavier spielte, hing schlicht auch damit zusammen, dass er nicht laufen konnte. Erst als Erwachsener lernte er, sich mühsam auf Krücken fortzubewegen.
Die ersten Begegnungen mit dem Jazz fanden vor dem heimischen Plattenspieler statt. Doch bald drängte es den jungen, hochbegabten Pianisten in die Öffentlichkeit: Mit 13 trat er erstmals öffentlich auf; mit 17 ging er nach Paris und veröffentlichte sein Debütalbum. Drei Jahre später zog er nach Amerika, um in der Gruppe des Saxophonisten Charles Lloyd anzuheuern.
Der Regisseur hat viele Menschen getroffen, die Petrucciani durch sein Leben begleiteten: seinen Arzt, Musikerkollegen wie Lee Konitz oder Aldo Romano sowie den Moderator Roger Willemsen, der mit dem Pianisten befreundet war und diesen Film produziert hat.
Sie alle erzählen von Petruccianis exzessivem Hunger nach Leben. Am Klavier war er derart temperamentvoll zugange, dass er den Schmerz nicht spürte, wenn er sich bei allzu hartem Anschlag mal wieder einen Finger oder das Handgelenk brach. Er ging fortwährend auf Tour, schlief wenig und nahm Drogen. Dieser Lebenswandel dürfte dazu beigetragen haben, dass er gerade mal 36 Jahre alt wurde.
Ausführlich geht der Film darauf ein, dass Petrucciani auch als Frauenheld unersättlich war. Er hatte mehrere Lebensgefährtinnen, die der Regisseur allesamt vor die Kamera geholt hat. Wenn diese jedoch Details zu Potenz und Liebhaberfähigkeiten Petruccianis ans Licht zerren, überkommt den Zuschauer das Unbehagen eines unfreiwilligen Voyeurs.
Andererseits lässt sich das Thema auch nicht ganz ausblenden, da ein gewisses mediterranes Machotum anscheinend ein wesentlicher Charakterzug Petruccianis war. Dazu gehört auch seine Vorliebe für zweideutige Witze.
Petrucciani selbst sagte, ohne seine pianistische Begabung wäre er Clown geworden. Der Film offenbart seine großen Fähigkeiten als Spaßvogel. Unterhaltsamkeit ist da oberstes Credo – und so stellt sich durch das Nebeneinander divergierender Aussagen manche von Petrucciani verbreitete Anekdote als Phantasieprodukt heraus.
Schwachbrüstig gerät jedoch die Seite der Musik. Zwar lassen die Konzertmitschnitte im Film Petruccianis herausragendes Talent erkennen: seinen nervösen, harten Anschlag, den rhythmischen Drive, das phantasievolle Improvisationstalent. Eine handfeste Beschreibung oder Einordnung dieser Musik entlockte der Regisseur jedoch keinem der Gesprächspartner. Alles dreht sich um die Person Petrucciani; die Musik wird zum Soundtrack degradiert.
Diese Gefahr droht jedem Musikerfilm; im Falle Petruccianis ist es allerdings besonders schwierig, ihr zu entgehen. Denn gerade auf diesen Musiker lässt sich trefflich jener romantische Geniekult projizieren, der das Leiden zum Ursprung künstlerischen Schaffens erklärt. Der Regisseur setzt einer solchen Mystifizierung wenig entgegen.
Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit
Regie: Michael Radford
Dt.Start: 08. Dezember 2011
Länge: 99 min