Der große Tanker Semperoper liegt führungslos an der Elbe. Kein Kapitän ist in Sicht – und inzwischen gehen die ersten Führungspersonen von Bord. Dabei braucht so ein riesiger Pott gerade jetzt ein gutes Team von Ersten Offizieren, damit er nicht auf Schlingerkurs gerät. Ist da wirklich kein Käpt'n in Sicht?
Vor fast einem Jahr, am 30. Juli 2012, ist die bisherige Intendantin der Sächsischen Staatsoper gestorben. Ulrike Hessler war erst seit 2010 in ihrem Amt, hatte aber wichtige Personalien entschieden und künstlerische Entwicklungslinien vorgegeben. Nicht zuletzt mit der Ernennung von Christian Thielemann zum Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle rückte das Haus stark in den internationalen Fokus.
Während insbesondere Thielemann und das Orchester auf eine sehr erfolgreiche Antrittssaison zurückblicken können und das Haus insgesamt auf eine einmal mehr gestiegene Auslastung von 91 Prozent sowie auf um zehn Prozent höhere Karteneinnahmen verweist, haben die Gerüchte um Hesslers Amtsnachfolge zunehmend für Spannung gesorgt.
Eine ganze Reihe von Namen ist da gehandelt worden, so manch Wunsch-Kandidat hat sich vorlaut auch selbst ins Gespräch und damit von vornherein aus dem Rennen gebracht. Eine – nach außen hin geheim besetzte – Findungskommission sollte in aller Ruhe über die Nachfolge befinden. Doch erst sickerte deren Zusammensetzung durch (ein Geheimnis war es von vornherein nicht, dass Dresdens Intendantensessel nur mit einer Persönlichkeit besetzt werden kann, die auch gut mit dem Orchesterchef zusammenpassen wird), dann purzelten die Kandidatennamen an die Öffentlichkeit.
Inzwischen scheint der Favorit gefunden zu sein: Serge Dorny soll ab 2015 nach Dresden kommen. Der 1962 in Belgien geborene Flame leitet derzeit die Oper Lyon, wo er seit zehn Jahren wachsende Erfolge verzeichnet. Mit einem Gerard Mortier, bei dessen Brüsseler Théâtre de la Monnaie Dorny als 25-jähriger Anfänger andockte, hatte er einen phänomenalen Lehrmeister. Als nächste Stationen kamen bereits die Londoner Philharmoniker und der Musiktheaterbereich beim Glyndebourne Festival, ehe er 2003 an die Zwei-Flüsse-Stadt Lyon wechselte. Dort, an den Ufern von Rhone und Saône, stieß er auf enorme soziale Brennpunkte, die er offenbar geschickt in sein Opernkonzept einzubinden verstand. Denn die Gattung Musiktheater lebt nur weiter, so Dornys Credo, wenn möglichst viele Menschen daran teilhaben. Ein Weg dahin war die Spreizung der Eintrittspreise – die billigsten Karten hat er deutlich reduziert, die teuersten moderat angehoben. Gestiegen sind damit auch Auslastung (auf mehr als 95 Prozent) und Akzeptanz des 1.100 Plätze fassenden Opernhauses, das Jean Novel 1989 vollständig umgebaut hatte.
Serge Dorny bezeichnet Kunst und Kultur gern als „erneuerbare Energien“ und legt in logischer Konsequenz auch Wert darauf, dass jede Spielzeit anders aussehen soll. Repertoiretheater seien für ihn „Fließbänder“, die wahre Kunst hingegen beinhalte, „was wir noch nicht kennen“. In der südostfranzösischen Metropole mit einem Einzugsgebiet von etwa eineinhalb Millionen Menschen hat dieses Konzept funktioniert, öffnete der Generaldirektor die Türen der Opera National de Lyon sogar für Breakdancer und Hiphopper. Der Trick daran, vielleicht Dorny Erfolgsrezept, das Eine zu tun ohne das Andere zu lassen. Er sorgt sich also auch ums Abopublikum, vergrätzt nicht die treuen Opernfans, um sich bei neuem Publikum anzubiedern.
Für die Halbmillionenstadt Dresden könnte so ein Herangehen durchaus belebend wirken. Bleibt zu hoffen, dass die vorzeitige Verlautbarung seines Namens und die prompt in einem Boulevardblatt angeregte Diskussion um sein künftiges Gehalt als Sächsischer Staatsopern-Intendant – das bildreiche Medium machte den Flamen bei der Gelegenheit flugs um zehn Jahre älter – in der Endphase nun nicht für Verstimmungen sorgt. Nach der Sommerpause will Sachsens Kulturministerin Fakten verkünden. Eytan Pessen, von Ulrike Hessler als Operndirektor nach Dresden geholt, hat sich bis dahin jedoch schon von der Elbe verabschiedet. Zwar hatte auch er sängerische Fehlbesetzungen mitzuverantworten, doch wird die kommende Zeit ohne vollständige Theaterleitung nun womöglich noch komplizierter.