Man nehme zwei prominente Figuren der Zeitgeschichte, die womöglich als Künstler in Berlin gewirkt haben und kombiniere deren unterschiedliche Lebensläufe und politische Haltungen, umgeben von Partnern und anderen Familienangehörigen. Der in Berlin als junger Komponist besonders gepflegte und auch gefeierte Oscar Strasnoy geht davon aus, dass das Musiktheater von den Spannungen zwischen seinen Protagonisten lebt.
Als Auftragswerk für die Staatsoper Berlin hat Christoph Hein ein solches Libretto über die am Deutschen Theater unter Max Reinhardt engagierten Künstler Tilla Durieux und Emil Jannings geschaffen:
Nach dem Suzid ihres Ehemanns Paul Cassirer, heiratet Tilla Durieux den jüdischen Brauereidirektor Ludwig Katzellenbogen und flieht mit ihm vor den Nazis nach Kroatien, wo sie nach dessen Hinrichtung im Widerstand arbeitet und als Näherin lebt, bis sie sieben Jahre nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehrt und neue Rollen am Theater bekommt. Nach einem solchen Comeback sehnt sich der dauerhaft mit Berufsverbot belegte Emil Jannings, zuvor Staatsschauspieler und Darsteller in NS-Propagandafilmen, vergeblich. Sein Leben an der Seite seiner Ehefrau, der Chansonette Gussy Holl, die sich ihrerseits weigert, aufzutreten, wird zu einem privaten Dauer-Schauspiel im bürgerlichen Rahmen.
Dafür hat Oscar Strasnoy in seiner Partitur einen Mix aus Rückerinnerungen an Musikstil und Klangfarben der 30er- und 40er-Jahre kombiniert, inklusive einem fiktiven Schlager „Heimweh“ und Akkordfolgen, welche der Komponist als „nazimäßige Akkorde“ bezeichnet.
Diese Klänge werden von zehn Instrumentalisten der Staatskapelle unter der musikalischen Leitung von Max Renne wirkungsvoll umgesetzt. Klarinette, drei häufig nur rhythmisch gezupfte Streicher, E-Gitarre, präpariertes Klavier und Hammondorgel, Drums und die jazzig, zumeist mit Dämpfer geblasene Trompete und Posaune, bleiben stets durchsichtig für die melodramatischen Passagen und Gesänge der Solistinnen. Anfangs bilden diese hauchend einen vokalen Klangteppich. Textverständlich sind sie sind selbst dann, wenn sie rhythmisch verschachtelt deklamieren und singen.
Die Partie der Tilla ist in zwei Protagonistinnen aufgespaltet, eine zumeist singende junge und eine ältere, vornehmlich sprechende. Deren Ehemann Ludwig wird nur kurz erwähnt, während das Gros der Erinnerungen dem exzentrischen Verleger und Galleristen Paul Cassirer gilt, der sich, weil er seine Ehefrau nicht freigeben wollte, beim Scheidungstermin erschossen hat. Paul geistert auch als Untoter durch den Raum, ist aber in Tillas Rückerinnerungen ungleich präsenter vorhanden.
Exakt vor einem Jahr hatte in der Werkstatt Strasnoys Gombrowicz-Oper „Geschichte“ Premiere. Den seinerzeitigen Komplett-Spiegelraum von Christoph Ernst alludiert Ausstatter Stephan von Wedel mit einem Standspiegel im rechten Eck der hermetischen Guckkastenbühne- Lichtkonzentration unterstützt die evorgegebenen Parallel-Schnitte. In den Zwischenspielen und gegen Ende der Handlung auch in die Aktionen der Darstellerinnnen überlappend, liefern Philipp Ludwig Stangls Schwarzweißfilme von Boxkämpfen und Berliner Nachtclub-Szenen ein historisches Ambiente.
In der Inszenierung von Ingo Kerkhof kommunizieren die Hälften Tillas mit einander, die jüngere schminkt der älteren mithilfe eines Handspiegels die Lippen. Die ältere Tilla ist zur Hälfte in den Bühnenboden eingesunken, wie in klassischen „Ring“-Inszenierungen die Erda, damals satirisch gerne als „Dame ohne Unterleib“ bespöttelt. Dabei ist es gerade der Unterleib, aus dem Tilla lebt. Faszinierend schafft die so auf den Platz fixierte Maria Husmann die geballte Aufmerksamkeit kraft ihrer Persönlichkeit und ihres Ausdrucksreichtums stets zu fokussieren, selbst wenn sie nur ein Stück Torte isst oder in den Jannings-Szenen, den Oberkörper vornüber auf dem Boden, schläft. Zunächst nur sprechend, feiert Maria Husmann später auch singend mit „Comeback“ ihr persönliches Comeback als Sopranistin.
Jannings’ junger Neffe Jörg will Schauspieler werden und ist so dem alten Tragöden ein willkommenes Opfer für seine politischen Indoktrinationen. Ralf Lukas verkörpert den uneinsichtigen Machtgünstling Emil Jannings kraftvoll und mit differenzierten Farben. Trefflich gelingt Johannes Euler die Counterpartie des Jörg Jannings, zunächst noch kindlich, mit Fahrradklingel, später, als der Onkel im Rollstuhl weiter agiert und agitiert, wird er zum Lustersatz für seine Tante Gussy. Nadja Steinhardt interpretiert die permanent ihre Dessous wechselnde Chansonette zwischen häuslichem Kleiderständer und Standspiegel mit tiefem Alt. Etwas verloren wirkt Martin Gerke als Paul Cassirer, der Glühlampen in einen Showrahmen an der Bühnenrückwand schrauben muss. Josephine Renelt als junge Tilla brilliert mit Koloraturketten, die an die Partie der Lulu gemahnen – eine Wedekind-Rolle, die Tilla Durieux am Münchner Künstlertheater kreiert hat. Am Ende kommt es dann zur Überschneidung der beiden Bühnenhemisphären, Jannings und Durieux begegnen sich erneut.
Texte , wie „Ich sag mir immer: jung gestorben, hat noch keinen gereut“ oder „Ich hab’ mein Leben überstanden, da bin ich froh; das reicht mir“, sorgen für sympathisierende Lacher im Publikum. Am Ende der pausenlosen Oper verpixelt das Quintett der Sängerinnen das letzte Wort des viel zitierten Satzes „Sie täuschen sich mein Herr, ich bin nur ein Schauspieler!“
Die erste Premiere der letzten Werkstatt-Spielzeit in der Staatsoper im Schiller Theater erntete von den auf steilen Reihen eng sitzenden Premierenbesuchern ungeteilten Zuspruch und viele Bravorufe. Der Komponist erinnerte durch ein hoch gehaltenes Foto daran, dass diese Produktion dem Andenken an den kürzlich an Krebs verstorbenen, charismatischen Staatsopern-Dramaturgen Jens Schroth gewidmet ist.
- Weitere Aufführungen: 2., 4., 7., 9., 12., 15., 16. Oktober 2016.