Bei Peter Brötzmanns Chicago Tentett teilen sich überdurchschnittlich viele Musiker die wenigen Mikros – denn auch bei den extremen Klang-Eruptionen seines wiederbelebten Großensembles stellt der Wuppertaler Freejazz-Pionier den Gruppensound über den Einzelnen. Enthusiastisch feierten viele in Moers das Comeback einer der Hauptfiguren beim einstigen musikalischen Gründungs-Mythos dieses Festivals.
Sowohl im Festivalzelt als auch im nicht minder kompromisslos agierenden Trio beim Morgen-Konzert gab Brötzmann zur Beglückung aller alles. Da tat auch das Damoklesschwert aktueller kommunaler Spardebatten und bestehender Fragezeichen hinsichtlich des künftigen Gesichts dieses Festivals der Stimmung keinen Abbruch. Zudem kann Moers anno 2010 einen neuen Publikumsrekord verzeichnen, freuen sich nun die Veranstalter. Entsprechen euphorisch betonten sonntägliche Reden beim Bürgermeister-Empfang die kulturelle Kostbarkeit dieses Ereignisses und einen unbedingten, einstimmigen Erhaltungswillen. Zumindest ist die Verdoppelung eines Landeszuschusses zur Förderung des Moers-Festivals seitens der NRW-Regierung nun beschlossene Sache. Und deutlich genug fielen Appelle an die Bundes-Politik aus, sich stärker zur Verantwortung für das Leben vor Ort in den finanziell ausgetrockneten Kommunen zu bekennen, was auch und gerade in Krisenzeiten heißt, kulturelle Nährböden zu erhalten.
Und der ist auf der grünen Wiese hinterm Moerser Schlosspark fruchtbarer denn je: Neue Bandkonzepte durchzogen viele Konzerte dieser 39. Ausgabe. Dass all jene umdenken müssen, die immer noch die Fahne der europäischen Überlegenheit in Sachen progressiver Jazz-Kreativität hochhalten, lehrte Moers schon im letzten Jahr – die 39. Ausgabe stellte dies nun noch stärker hinaus. „Super Seaweed Sex Scandal“, eine blutjunge New Yorker Formation griff zwar recht retrospektivisch so manches Idiom aus John Zorns „Naked City“-Biotop ab, schleuderte seinem Publikum so etwas aber mit geballter punkiger Wucht um die Ohren. Die unangefochtene Krönung jener neuen Kreativität made in USA lieferte jedoch das Steve Lehman Oktett: Das war eine Sternstunde angefüllt mit futuristischen Klangfarben und ebensolchen Rhythmen, bei denen anscheinend stark in die Gefilde von Postrock und Drum and Bass hinein gelauscht wurde, um damit wieder zu einer höchst ernsthaften und kühn konzipierten Jazz-Sprache für morgen zu finden.
Auch die groß besetzte Formation der Niederländerin Sanne van Hek agierte erfrischend hellhörig in Sachen neuer Klangwelten-Erforschung – hier findet auch das archaische, minimalistische seinen Platz. Motivische Patterns aus der Gamelanmusik sind nicht selten die Keimzelle für Sanne van Heks famose Trompetenparts – geschmeidig und höchst kommunikativ griffen die Bandmitglieder so etwas auf, was manchmal durchaus Morton Feldmansche Sphären berührte.
In Moers sein heißt Begegnungen haben – vor der Bühne, aber auch auf der Bühne. Bill Frisell strahlte vor regelrecht kindlicher Freude, wie er seine um melodische Muster kreisende Saitenkunst zunächst mit einem Violaspieler und einen Abend später mit der Trompete von Arve Henriksen in betont meditative Berührungen brachte.
Zwischen den etablierten Figuren und überraschenden Newcomern zeigten sich die Höhepunkte ausgewogen verteilt. Da entführte der charmante Indie-Pop der jungen deutschen Band „Schneeweißchen und Rosenrot“ in ein elegisches Bad aus Moll-Harmonien – nebenbei fand hier eine äußerst raffinierte Übertragung von Jazz-Klaviertrio-Arrangements in subtile Pop-Gefilde statt. Eine ausbaufähiges Feld, auf dem so manches der zahllosen, die Szene überschwemmende junge Klaviertrios zu neuen Ufern finden könnte!
Aufführungen von Stars des brasilianischen Tropicalismo haben nicht selten etwas surreales, provokantes, doppelbödiges. Dementsprechend gab Arto Lindsay in Moers alles, um sein Publikum mit roher Energie zu bestürmen. Schließlich ist die Lyrik seiner zerbrechlichen Songs alles andere als nur Spaß und die Botschaft viel mehr als einfach zarter Natur. Also riss er zwischen den fragilen Song-Strophen umso brutaler die Regler auf, um elektrischen Saiten-Klagegesängen ihr wütendes, umwälzendes Crescendo zu verleihen.
Ein letztes Mal einen vierten Festivaltag erleben, das macht Moers 2010 historisch. Die Kürzung des Ereignisses auf drei Tage, um damit Sparwillen zu bekunden, ist nach momentaner Lage höchst wahrscheinlich. Das wohl letzte viertägige Moersfestival bekam sein Traum-Finale: In Fred Frith aktueller Band „Cosa Brava“ entfaltet das sphärisch glühende, aber auch in tiefer Musikalität ruhende Violinspiel von Karla Kohlstadt Carla Kihlstedt so viel Emotion und Magie. Aber auch sie agierte als Teil eines ganzen kongenial durchkomponierten Bandkonzepts.
Rainer Michalke will als künstlerischer Leiter auf jeden Fall den „besten Job beim besten Festival“ (Michalke) weitermachen - allerdings zu Konditionen, bei denen die volle künstlerische Substanz des Festivals erhalten bleibt. Zurzeit wird noch verhandelt.