Kent Nagano dirigiert an der Staatsoper Hamburg die Uraufführung von „Stilles Meer“, Toshio Hosokawas Oper über die Katastrophe an der japanischen Küste. Ein Bericht von Verena Fischer-Zernin.
Ganz schön gewagt, eine Oper auf die Bühne zu bringen, die keinen klassischen tragischen Konflikt zum Gegenstand hat, sondern sich im Kern um das Nichts dreht, um die Abwesenheit, um die Toten. Aber an diesem Abend ist überhaupt manches anders in der Staatsoper Hamburg. Angefangen beim Premierenpublikum: Damen im Kimono und japanische Großfamilien sieht man dort sonst jedenfalls eher selten.
Kent Nagano, seit dieser Saison Generalmusikdirektor in Hamburg, dirigiert die Uraufführung der Oper „Stilles Meer“. Toshio Hosokawa hat das Stück im Auftrag der Staatsoper geschrieben und damit nach „Stille nach dem Sturm“ für das Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra den Opfern von Fukushima ein weiteres klingendes Denkmal gesetzt: klar erzählt, gut zu hören und im Untergrund voller kunstvoller Querbezüge.
Knapp fünf Jahre ist es her, dass das Seebeben vor der japanischen Küste in ein Atomunglück von ungeahnten Dimensionen mündete und tausende Tote forderte. Dem kurzlebigen kollektiven Gedächtnis ist es längst entfallen, aber für die Menschen der Region bleibt es prägend. Ihr Leid, ihr Weiterlebenmüssen bildet den Hintergrund von „Stilles Meer“.
Einige von ihnen betreten vor Aufführungsbeginn schon die offene Bühne, jeder eine weiß leuchtende Kugel im Arm, verneigen sich voreinander und setzen sich still um das Podest mit der kreisrunden, geneigten Oberfläche, das Itaru Sugiyama in der Mitte seines Einheitsbühnenbildes gesetzt hat. Nur ein kleiner Roboter sagt eifrig an, man befinde sich in der gefahrenfreien Zone. Es ist „O-higan“. Traditionell ziehen an diesem Tag die Hinterbliebenen an den Strand und setzen Laternen aufs Wasser, um die Seelen der Toten dem Meer zurückzugeben. „Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne“, singen die Vokalsolisten Hamburg blitzsauber und textverständlich in einem wiegenden Choral, der im Verlauf des Stücks immer wieder auftaucht und es gleichsam rahmt.
Nur Claudia geht nicht mit. Sie hat bei dem Tsunami ihren japanischen Mann und ihren Sohn aus einer früheren Beziehung verloren, aber sie will sich mit dem Tod ihres Kindes nicht abfinden. Kaum je verlässt sie den Steg oberhalb des Podests. Dort, fern jeder Erdenhaftung, wartet die blonde Deutsche im japanischen Designergewand (Kostüme: Aya Masakane) darauf, dass Max vom Angeln heimkommt. Susanne Elmark meistert die extremen Höhenlagen der Partie souverän, doch fehlt es ihrem Sopran an Kern und an farblicher Variabilität. Sie spielt die Figur, als wäre sie aus der Achse gefallen.
In den Augen ihrer Umgebung ist Claudia das auch. Stephan, der Vater des Kindes, ist nach dem Unglück aus Deutschland gekommen, um sie heimzuholen. Der Countertenor Bejun Mehta wirbt in herzzerreißenden Lamenti und Seufzern um sie, von Harfenklängen umspült, mit warmem Timbre, hörbar geschult an barocken Verzierungstechniken und mit einer nach innen gewendeten Trauer, die alle irdische Zeit außer Kraft setzt.
Stephans Verzweiflung deutet Mehta nur in wenigen Gesten an. Das Stilisierte, Abgezirkelte gehört zum Konzept. Westlichen Betrachtern mag es artifiziell erscheinen, aber dadurch erhält jede Bewegung ihr eigenes Gewicht. Hosokawa und der Regisseur Oriza Hirata, der auch den Hannah Dügbens Libretto zugrundeliegenden Text schrieb, beziehen sich in „Stilles Meer“ immer wieder auf das traditionelle japanische Nô-Theater, und das nicht nur stilistisch mit den genretypischen Pausen und dem reduzierten Gestenrepertoire, sondern auch explizit. So will Claudias Schwägerin Haruko sie über die Erinnerung an ein Nô-Stück in die Wirklichkeit zurückholen. „Find dich ab“, fordert die fulminante Mezzosopranistin Mihoko Fujimura, „fang ein neues Leben an!“
Aber gerade diese Wirklichkeit lehnt Claudia ab, sie beharrt auf der ihren. Was nicht ausschließt, dass sie Stephan singend beschreibt, wie sich die Leichen der Ertrunkenen jedes Mal verändern, wenn das Meer sie alle paar Tage bringt, solange, bis sie nur noch der Zahnarzt wiedererkennen kann. Es ist einer der wenigen drastischen Momente des überwiegend lyrisch gehaltenen Werks. Die wenigen Momente, in denen das riesig besetzte Schlagwerk den Schrecken des Erdbebens evoziert oder auch gleich die Unentrinnbarkeit des Schicksals, lassen den Hörer geradezu erstarren. Doch zumeist muss er sich das Konkrete, das Grauen selber denken.
Hosokawa und Hirata verzichten darauf, Claudia für verrückt zu erklären oder die divergierenden Sichtweisen einer theatertauglichen Auflösung zuzuführen. Stattdessen eröffnen sie dem Publikum einen Raum für unzählige atmosphärische Nuancen. Hosokawas Klänge erzeugen einen wahren Sog, so fein sind sie abgestimmt, klangsinnlich und ohne hyperavantgardistische Schnörkel. Die Timbres der drei Hauptfiguren Claudia, Stephan und Haruko verschmelzen momentweise und entflechten sich sogleich wieder. Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg arbeiten die Strukturen mit feinem Gerät heraus. Die Solostreicher machen beredte Kammermusik, die Bassklarinette flicht Trauerkränze um den einen Moment, in dem Claudia und Stephan gemeinsam Max’ gedenken können.
So verbindet sich das Klangbild mit den Stimmungen auf der Bühne zu einem atmenden Ganzen. Der Himmel an der Bühnenrückwand verfärbt sich unmerklich von unschuldig blau zu nachtschwarz oder auch fallout-giftgelb, unterstützt von Daniel Levys präzise erzählender Lichtregie. Nichts an dieser Schönheit ist Selbstzweck, sie stellt sich immer in den Dienst des Geschehens. Keine Folklore, kein Japan-Klischee, nirgends.
Dass das Publikum sich von diesem introvertierten Gesamtkunstwerk hat ergreifen lassen, das ist eher zu spüren als zu hören, der Applaus fällt freundlich-verhalten aus. Frenetische Jubelstürme würden zu dem Abend auch nicht recht passen. Und zum Sujet schon gar nicht.