Wer sich hierzulande abfällig über Massenveranstaltungen äußert, durfte bislang auf Beifall hoffen. Der Argwohn gegenüber der Masse ist in unserer Kultur tief verwurzelt. Gustave Le Bon, ein französischer Arzt, hat ihn im ausgehenden 19. Jahrhundert erstmals artikuliert. „Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein“, orakelte er 1895. [Vorabveröffentlichung aus nmz 7/8-2010]
Er wähnte sich an der Schwelle zu einer neuen Epoche und erkannte die Massenkultur als Totengräber seiner Zivilisation. Massen wirken in seinen Augen „gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei.“ Das 20. Jahrhundert schien seine These zu bestätigen. Selbst die Vordenker einer neuen, digitalen Massenkultur haben in den vergangenen Jahren den Rückzug angetreten. „Ein Kollektiv auf Autopilot kann ein grausamer Idiot sein, wie uns die Ausbrüche maoistisch, faschistisch oder religiös geprägter Schwarmgeister immer wieder vorgeführt haben“, schrieb der amerikanische Internetpionier Jaron Lanier bereits im Frühjahr 2006.
Umso mehr erstaunt es, dass die Masse – abgeleitet vom griechischen „Brotteig“ (maza), den man kneten (massein) muss – inzwischen auch von kulturpolitisch einflussreichen Menschen wieder als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins gefeiert wird, das einer als elitär bezeichneten Kultur aus ihrer Krise helfen soll. Nach den pompösen Inszenierungen der Nationalsozialisten war es in Deutschland 50 Nachkriegsjahre lang undenkbar, Massenveranstaltungen zu besuchen oder zu veranstalten, ohne mahnende Stimmen auf den Plan zu rufen, wie auch ein Artikel des Schriftstellers Rainald Goetz aus dem Jahr 1997 über die Love Parade unterstreicht: „Jeder war ganz offen-sichtlich vollkommen beglückt, dabei zu sein, gemeinsam mit den anderen der vielen gleichzeitig was Gleiches zu erleben. Da klingelten die Alarmglocken, alle, überall.“
Auch die Geschäftsführer der Kulturhauptstadt RUHR.2010 wissen darum, und so wappneten sie ihr Unternehmen gegen die Kritik an der Massenveranstaltung „Day of Song“ mit den Worten: „Deutschland hat nach den NS-Erfahrungen das öffentliche Singen verlernt. Das wollen wir wiederentdecken.“ Wer sich die Inszenierung des Events vor Augen führt, dessen „Reiz“ in der deutschen Formulierung „Tag des Lieds“ viel treffender zum Ausdruck kommt, stellt schnell fest, dass Kultur hier allerdings keiner anderen Funktion dient, als in jedem System, das mit Massen hantiert: Kollektivität herzustellen.
Eine technische Panne verunmöglichte das gemeinschaftliche Anstimmen des Steiger-Liedes im gesamten Ruhr-Ort mittags um zwölf Uhr. Entgegen der Maßgabe entschied jedes Örtlein selbst, wann es loslegt: Individualität und Vielfalt, Gegengift zur Masse, waren hergestellt. Schwieriger wurde es, diese zu wahren, als am Abend in der Veltins-Arena auf Schalke 50.000 Menschen zum Kollektiv-Singsang versammelt wurden. Selbst-kritisch muss man sich fragen, ob die Skepsis, die man solcher Art von Veranstaltung entgegen bringt, auf Lektüreerfahrungen beruht. „Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab“, schrieb Le Bon.
Wie geht das nun mit „Kulturhauptstadt“ zusammen? Wie soll man es mit der „Weisheit der Massen“ überein bringen, wenn Tausende fähnchenschwenkend-andächtig lauschen, als eine Gruppe weiblicher Teenies mit Betschwesternattitüde singt: „Mit deiner rauen Engelszunge/ Dringst du in mich ein“? Wie anders soll man Männerchöre mit Rotwein in der Hand bezeichnen, wenn nicht als „vulgäre Mittelmäßigkeit“ (Le Bon)? Wie soll man empfinden, wenn der Schlusssatz aus Beethovens Neunter – gemeinsam mit Herbert Grönemeyers „Ruhrhymne“ im Programmheft als „Festivalmusik“ rubriziert – aus tausenden Kehlen geschmettert wird, als hätte es den Missbrauch dieser Musik nie gegeben?
Man weiß sich als Autor solcher Zeilen allein unter 50.000 Menschen, die das Erlebnis der „Massenseele“ miteinander geteilt haben. Sie sind begeistert. Rettung sucht man wiederum bei Le Bon: „Die Einmütigkeit zahlreicher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise, den man zur Erhärtung einer Tatsache beibringen kann.“
Wie schon der belgische Komponist und Musikgelehrte François-Auguste Gevaert feststellte, ist Musik an und für sich eine Massenkunst. In jedem öffentlichen Konzert ist die gesamte Gesellschaft symbolisch anwesend, repräsentiert durch die Gemeinschaft der Hörer, die niemanden aufgrund seiner Herkunft oder seines Standes ausschließt. Dass dieses Bewusstsein abhanden gekommen ist, mindert nicht den Irrtum, der im Versuch liegt, diese „Verschmelzung“ durch Masseninszenierungen zu ersetzen: Wo es darum geht, mächtige Bilder zu erzeugen, ist die Musik nur vorgeschoben.
Insgeheim freut man sich daher inzwischen, wenn man den Fernseher einschaltet und einem zu jeder Tages- und Nachtzeit aus südafrikanischen Fußballstadien ein minimalistischer Drone entgegentönt, der all jene, die sich an volkstümlichen Schlachtrufen berauschen wollen, in die Flucht oder zur Stummtaste zwingt. In Form der Vuvuzela, einer Marketingerfindung der WM-Industrie, offenbart der Minimalismus seine kritische Seite: der Brunftschrei der Masse schlägt sich selbst in die Flucht. Die amorphe Stadionmusik der Fußballweltmeisterschaft 2010 ist ein Weckmittel für all jene, die sich in der Masse in Morpheus’ Armen wähnen.