Murray Perahia ist unter den großen Musikern unserer Zeit ein Solitär der Schwerelosigkeit. Am 19. April wurde der aus einer aus Griechenland eingewanderten sephardischen Familie stammende, in New York geborene Pianist 65 Jahre alt. Das könnte überraschen, denn eigentlich hat Perahia immer ‚alterslos’ gewirkt. Wenn er auf die Bühne kommt, bietet er eher das Bild eines versehentlichen Anti-Stars, so bar jeglicher Allüren und Bedeutungsschwere ist sein Auftritt – es wirkt, als wolle er selbst gar nicht gesehen werden, als bitte er darum, ihn hier einfach sein Amt verrichten zu lassen, im zutiefst ernsthaften Streben, gemeinsam einen musikalischen Kosmos entstehen zu lassen und der Welt der lebendigen Tonbeziehungen zu huldigen.
Momentan tourt Perahia mit einem dramaturgisch fein gemischten Programm, das er unter anderem in den großen Sälen in Köln, München, Wien (22.5.), Berlin (25.5.) und Genf (3.6.) vorträgt: Johann Sebastian Bachs 5. Französische Suite, Ludwig van Beethovens ‚Mondschein’-Sonate op. 27 Nr. 2, Robert Schumanns ‚Faschingsschwank aus Wien’, Franz Schuberts kleine späte A-Dur-Sonate und eine Auswahl von Chopin-Stücken, die von der cis-moll-Polonaise und dem ersten Scherzo in h-moll gerahmt wird.
Perahia bedauert durchaus, dass es nicht solche Recital-Programme sind, die er auf CD einspielt, sondern fast immer ausschließlich Werke eines Komponisten – was der Handel so wünscht und damit auch sein Stammlabel Sony. Wenn selbst ein so unumstrittener Großmeister des Klavierspiels hier kaum Spielräume hat, wie soll es dann erst unbekannteren Musikern ergehen?
Perahias Konzerte gehören zu jenen ganz raren Ereignissen, wo sich musikalisch ein transzendenter Raum entfalten kann, der weit über großartige Pianistik hinauszielt. So war das auch bei Arturo Benedetti Michelangeli, Alexis Weissenberg oder Sergio Fiorentino, und es gibt gewiss Parallelen bei Auftritten etwa von Radu Lupu, András Schiff, Peter Serkin oder Grigorij Sokolov. Vom ersten bis zum letzten Ton höchstkarätige Kultur der klanglichen Verfeinerung und strukturellen Transparenz – wer wirklich auf solche Werte etwas hält, wird sehen, dass ihm ein solches Konzert nicht entgeht. Und doch gab es in der Münchner Philharmonie noch viele freie Plätze, was für den Stand unserer Kultur insgesamt eher beschämend ist.
Darüber hinaus ist dieser überdimensionierte und in den Proportionen unstimmige Raum keine Freude für den Solisten, der sich selbst schlecht hört in diesem Raum und bezüglich der Wirkung im Saal ganz auf Erfahrungswerte und hypothetische Abschätzung angewiesen ist.
Was nun macht die Größe von Murray Perahias Musizieren aus? Das erweist sich am unwiderstehlichsten in der Musik Bachs (übrigens auch, wie sich auf einer CD nachhören lässt, bei Händel und Scarlatti): Hier entsteht ein Kontinuum, ein Spannungsbogen von solch fragiler Subtilität und zugleich großzügiger Natürlichkeit und Logik des Satzverlaufs, dass der Hörer sofort auf ein ‚Feinhören’ eingestellt wird, in welchem gröbere agogische oder dynamische Eingriffe, üblicherweise als ‚Temperament’ missverstanden, extrem stören würden. Man kann nur die eminente pianistische und geistige Kontrolle im kontrapunktischen Gewebe bewundern. Wo gäbe es zierlichere, diskretere Bässe, die doch zugleich das Ganze tragen und steuern und zielstrebiger Phrasierung unterstellt sind? Nicht ein Mal ein Effekt um seiner selbst willen, keinerlei überzogene ‚Interpretation’, und auch nichts Belehrendes haftet diesem Spiel an. Es wirkt innerlich frei, und dabei gestattet es sich keine äußerlichen Gesten ‚freien’ Auftrumpfens. Es gibt eben glücklicherweise andere Wege als nur die unversöhnlichen Gegensätze von ‚genialer’ Willkür und korrekter ‚Werktreue’, und man muss nicht eigensinnige Marotten hervorkehren, um als ‚unverwechselbare’ Persönlichkeit in Erscheinung zu treten. Diese Persönlichkeit entfaltet ihr Feuer in der Intensität und Unbedingtheit der Hingabe, und jeder einzelne der stilisierten Tanzsätze der Französischen Suite wird zu einem lebendigen Wesen, das sich eingliedert in den Reigen eines sich in beziehungsreicher Verschiedenheit ergänzenden Gesamtablaufs. So gespielt wirkt das alles zweifellos so bezwingend, als könne es niemals anders sein.
Ebensolche Klang- und Phrasierungskultur herrscht auch in Beethovens ‚Mondschein’-Sonate, in den verhalten weiten Bögen des Adagios und der herrlich getroffenen Menuett-Atmosphäre des zweiten Satzes. Das Finale geht Perahia sehr stürmisch an, bricht jedoch das Monument wie viele vor ihm mehrfach in geradezu schroff gliedernder Weise – und führt damit schon über in die romantischen Gratwanderungen, wie sie zumal für das Schaffen Robert Schumann so wesensmäßig sind. So ist denn auch ganz besonders der in seinen Charakterstimmungen so wechselhafte und fast etwas zum Labyrinthischen tendierende Kopfsatz des ursprünglich als vierte Sonate beabsichtigten ‚Faschingsschwanks aus Wien’ ein Auf und Ab zwischen Extremen auf schwankenden Grund. Hier ist die Musik so fern der Souveränität und inneren Ruhe Bachs, wie sie nur sein kann. Bei Schubert findet sie sozusagen wieder mehr zu sich selbst, die viel beschworenen ‚inneren Abgründe’ werden nie plakativ herausgekehrt, sie geben sich infolge von Perahias sehr bewusster Gestaltung der modulatorischen Verläufe quasi im Vorübergehen preis wie Naturerscheinungen der imaginierten Innenwelt.
Am meisten verblüfft, zum Beispiel im Schubert-Finale, immer wieder die unerhörte Geschmeidigkeit und Eleganz, mit der Perahia in einer Vollendung wie kein anderer perlende Läufe und Akkorde in wundervollst hell schillernder Farbigkeit integriert, ohne dass auch nur irgendein Detail hervorsticht oder aus der Balance poltert. Das ist die reine Vollendung, und wenn es nur diese Momente wären, die großartig sind, so wären wir schon überreichlich beschenkt. Man geht freilich mit mehr nach Hause – man hat diesen Klang noch tagelang im Ohr und mag dann sehr empfindlich reagieren, wenn ein weniger feinsinniger Virtuose den derart nachhaltig sensibilisierten Gehörssinn mit unbeherrschten Härten und Nebulositäten beleidigt. Bei Chopin sind solche Qualitäten natürlich eine unüberschätzbare Voraussetzung, und viele Momente sind hier von einer Schönheit, einer Wärme und einem Schattierungsreichtum, die in Sekunden ganze Traumwelten entstehen und wieder vergehen lassen.
Wenn wir bedenken, was alles an großer Tradition in Perahias musikalisches Werden eingeflossen ist – Mieczyslaw Horszowski, Rudolf Serkin, Clifford Curzon, Pablo Casals, Benjamin Britten, Vladimir Horowitz, die Musiker des Budapest Quartet und des Guarneri Quartet, das Duo-Spiel mit Georg Solti, die musikwissenschaftliche Forschung von Heinrich Schenker und Erst Kurth, die Zusammenarbeit mit Sergiu Celibidache usw. Von der im besten Sinne – riskieren wir einmal, es so zu nennen – ‚eklektischen Authentizität’ Murray Perahias können junge Musiker heute so viel lernen wie nur von den Wenigsten. Auch als Dirigent steht Perahia in einer Tradition von großen Kammerorchester-Leitern wie Szymon Goldberg, Benjamin Britten, Edwin Fischer, Harry Blech, Pablo Casals, Sándor Végh oder Alexander Schneider, und eben dieses so hochkultivierte wie fast nirgendwo noch gelebte Musikantentum ist es, welches Perahia in höchster Verfeinerung repräsentiert.