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Kristjan Järvi mit Musikern. Foto: Peter Adamik
Kristjan Järvi mit Musikern. Foto: Peter Adamik
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„Die Musik riechen, hören, fühlen, schmecken können“ – Kristjan Järvi im Portrait · Von Stefan Pieper

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„Wir kreieren eine Plattform, damit Menschen interkulturell zusammen kommen. Wir leben und essen zusammen und gehen dann auf Konzert-Tournee. Obwohl wir 10 verschiedene Sprachen sprechen und vielleicht auch verschiedene Verständnisse von Leben haben“. Kristjan Järvi weiß gut, seine Sache enthusiastisch zu formulieren. Der aus Estland stammende Dirigent war im Jahr 2008 maßgeblich an der Gründung des Baltic Sea Youth Philharmonic (BYP) beteiligt, ein Orchester für junge Musiker rund um die Ostsee. Soeben gingen die jungen Musiker für die Proben zur aktuellen Tournee durch mehrere europäische Länder im nagelneuen Musikbildungszentrum Bad Fredeburg in Klausur.

Es ist für dieses international bestens aufgestellte Orchester und ihren Leiter der perfekte Ort für Konzentration und soziales Miteinander. Und dies beides sind für Kristjan Järvi gleichberechtigte Aspekte, die der Musik dienen. Järvi sieht daher im Baltic Sea Youth Philharmonic das Plädoyer für einen gemeinsamen, Grenzen überwindenden Kulturraum voller Vielfalt verkörpert. Musik und Musizieren ist dabei ein idealtypischer Spiegel der Gesellschaft. So unmittelbar wie möglich soll diese Botschaft aufs Publikum wirken, wie Järvi im Gespräch zwischen den Proben deutlich machte: „Das Publikum hört nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen“.

Dieser Orchesterleiter kennt keine Grenzen zwischen Genres und kulturellen Milieus. Seine ersten frühkindlichen, elternhaus-geprägten Erlebnisse hatte er mit Mozart, später war er von Richard Strauss-Platten angefixt, wenn diese – in der Sowjetunion verboten – den eisernen Vorhang durchdrangen. Später ist Joe Zawinul zu seinen ewigen Helden geworden. Im Jahr 2000 gründete er in New York sein „Absolute Ensemble“, das unter anderem mit einer spektakulären Jimi Hendrix- Hommage auf diesen Ausnahme-Musiker hellhörig werden ließ.

Vielseitigkeit des Sinfonieorchesters

Warum er schließlich doch mit dem Dirigentenberuf eine der traditionellsten Rollen in der Musik eingenommen hat? Nun, in seiner Vielseitigkeit sei ein Sinfonieorchester immer noch unerreicht – eine Einsicht, die seinem künstlerischen Credo gemäß mit frischer Kreativität in die Zukunft getragen zu werden verdient.

Stereotypen des klassischen Konzertbetriebs aufbrechen, ist für Järvi unabdingbar, wenn es ums Weiterleben der klassischen Musikkultur überhaupt geht. Auf CD-Einspielungen extrahiert er gerne mal einzelne Sätze aus größeren Werken heraus. Bislang war dies eine Art Sakrileg im Umgang mit sinfonischer Konzertmusik. Aber die Botschaft kommt rüber, wenn schließlich daraus ein neuer, künstlerisch und auch gesellschaftlich relevanter Mix entsteht.

„Die Musik riechen, hören, fühlen, schmecken können“, ist die Erfahrung, die Järvi dem Publikum weitergeben will. Und da tut sich aktuell ein großer Reichtum bei der immensen Vielfalt der ganzen Musikkulturen rund um die Ostsee auf. Das fängt bei russischen Komponisten an, die alle in der Ostseestadt Sankt Petersburg ansässig waren. Das hört noch lange nicht auf bei einem nordischen Mystiker wie Arvo Pärt und das führt – nicht zuletzt auch auf der aktuellen Tournee des BYP – aufregende Entdeckungen aus der Jetzt-Zeit zutage: Etwa die post-minimalistischen Geniestreiche des jungen Estländers Geliminas Gelgotas, dessen neues Werk in Zürich uraufgeführt wird.

Programmatisch wirkt auch der Titel eines anderen, frischen Werkes von Gelgotas: „Never ignore the cosmic ocen“. Da ist er wieder ganz symbolträchtig, der Ozean, oder eben die Ostsee als ein sehr ursprüngliches und verbindendes geografisches Element. Musik ist dabei die übergeordnete Kraft, die alle politischen, ideologischen und wirtschaftliche Grenzen mit Leichtigkeit überwinden hilft. Järvi, selbstbewusst: „Das alles sind doch nur künstliche Kategorien. Was wir hier zusammen mit der Musik machen, das ist real!“

Das nagelneue Musikausbildungszentrum im sauerländischen Bad Fredeburg wurde aus der Laienmusikbewegung heraus ins Leben gerufen. Mit großem Aufwand ist aus einer ehemaligen Landwirtschaftsakademie ein hochfunktionales Zentrum für konzentriertes musikalisches Arbeiten entstanden. Mit akustisch optimiertem Mobiliar, großen Konzertsälen, Flügeln und weiteren Instrumenten. Realisiert durch viel unternehmerischen Einsatz aber auch gewichtige Fördermittel vom Land Nordrhein Westfalen und aus EU-Mitteln. Dass hier nun schon kurz nach der Eröffnung ein Weltklasse-Orchester mit einem prominenten Dirigenten eine internationale Tournee erarbeitet, setzt auf jeden Fall ein Signal für die angenehm beschauliche Sauerland-Region.

Solche Arbeitsbedingungen wie an diesem Ort haben auch für ein weitgereistes Profiorchester Seltenheitswert. „ Das haben wir sonst nie, dass wir hier alles an einem Ort zur Verfügung haben. Wir leben hier zusammen, können in den Pausen heraus in die stille Natur und wir müssen nicht ständig zwischen Übungsstätte und Hotel hin- und herpendeln. Das alles verbessert die Konzentration auf die Probenarbeit“ lobt der Schlagzeuger Heigo Rosin.

Kreis zwischen einem Weltklasse-Orchester und der Laienmusik-Kultur

Und dann schließt sich auch der Kreis zwischen einem Weltklasse-Orchester und der Laienmusik-Kultur. Beim Tourneeauftakt im westfälischen Heiden musizierten zwei lokale Laienspielensembles zusammen mit dem Baltic Sea Youth Philharmonic – unter anderem ein zündend temperamentvolles Neuarrangement von Wagners berühmten Walkürenritt. Das Publikum in der Westmünsterlandhalle ist hingerissen.

Keine Atempause gibt es, weil Kristjan Järvi danach spontan Imants Kalnins Rock-Sinfonie einstreut, um den Stimmungslevel weiter hoch zu treiben. Es ist ein stark repetitives Stück mit dynamischen Steigerungen, bolero-artigen Klangfarbenwechseln. Perkussionist Heigo Rosin, der aktuell in Dänemark studiert und längst in der ersten Liga seines Fachs unterwegs ist, soliert mit atemberaubendem Krafteinsatz in Erki Sven Tüürs brandneuem Marimba-Konzert. Innigste Tongebung liefert die Violinisten Hyeyoon Park im Violinkonzert von Camille Saint Saens – auch das eine emotionale „Erfahrung“ für den Hörer, der sich drauf einlassen kann. Und dann bringt Rimsky-Korsakovs „Capriccio Espagnol“ wieder den Bezug auf Sankt Petersburg, wo auch Rimsky-Korsakov ansässig war, ins Spiel.

Wenn nun Kristjan Järvi und das BYP am 19. September das Usedomer Musikfestival eröffnen, kehrt das Orchester gewissermaßen an seinen Geburtsort zurück. Man erinnere sich: Dieses Festival macht sich seit 1994 um eine Gesamtschau der facettenreichen Musikvielfalt rund um die Ostsee verdient. Im Jahr 2008 folgte auf Initiative von Kristjan Järvi und durch maßgebliche Unterstützung durch die Nord Stream AG die Gründung eines Orchesters für die musikalische Jugend.

Hierbei steht eine weitere Weltpremiere aus der musikalischen Gegenwart der baltischen Region auf Programm – nämlich das „Green Piano Concerto“ des finnischen Komponisten Severi Pyysalo, Solist ist der finnische Pianist Pauli Kari. Die thematische Idee ist wiederum einer „Botschaft“ verpflichtet: So thematisiert diese Musik den Respekt vor den natürlichen Ursprüngen des Menschen, vor allem in dieser Region, in der – so formuliert es Kristjan Järvi – doch alle Menschen in derselben See schwimmen.

Infos unter:

CD-Tipp

  • The Kristian Järvi Sound Project, Baltic Sea Voyage
    Naive Records 2015

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