Es gab Zeiten, in denen das Musiktheater zeitnah auf Entwicklungen oder Ereignisse im Bereich des literarischen und allgemeinen „geistigen“ Lebens reagierte. Die Veroperung von Victors Hugos Drama „Lucrèce Borgia“ (Paris 1833) gehört dazu – Gaetano Donizettis Oper kam noch im Dezember desselben Jahres an der Scala in Mailand heraus und habe dort, so steht in den Annalen, ein positives Resultat erzielt.
Doch der kurze Anlauf zum Erfolg muss außerordentlich beschwerlich gewesen sein. Erst hielt der Dichter Felice Romani das Libretto, das er ursprünglich für Giuseppe Saverio Mercadante eilig entworfen hatte, gegenüber Donizetti ungebührlich lange zurück. Dann zauste die Zensur den Text. Der kompilierte freizügig zentrale Episoden aus dem Leben der Herzogin Lucrezia, die 1480 in Rom als Tochter von Papst Alexander VI. und dessen Favoritin Vanozza de' Cattanei geboren wurde, 1519 in Belriguardo bei Ferrara starb. Nach den erzwungenen staatlichen Eingriffen sorgte die Primadonna Henriette Méric-Lalande mit ihren Launen und Drohungen für weitere Umarbeitungen. Daher kann von einer „authentischen“ Werkgestalt kaum die Rede sein bei dieser Oper, die aus einem in Venedig angesiedelten ausführlichen Prolog und zwei in Ferrara spielenden Akten besteht.
Die Belgische Nationaloper hat nun in einer ihrer Nebenspielstätten, dem Cirque Royal, unter musikalischer Leitung von Julian Reynolds und in einer Inszenierung von Guy Joosten „Lucrezia Borgia“ in einer plausiblen Version präsentiert – ein Werk, in dem nachweisliche Ereignisse aus dem ersten und zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts und hartnäckig kolportierte Gerüchte – dichterisch ausgeschmückt – weit mehr sind als nur historisches oder Lokalkolorit für Liebesintrigen. Wobei diese freilich, gattungsbedingt, die dramaturgischen Fäden spinnen. Romanis und Donizettis Plot bedient sich einiger Episoden aus dem zweiten Lebensabschnitt von Lucrezia, auf die Zeit ihrer dritten Ehe mit Herzog Alfonso d'Este von Ferrara, mit dem sie mehrere Kinder hatte.
Die als außerordentlich schön beschriebene adelige junge Dame war bereits in ihrem elften Lebensjahr zweimal verlobt, mit zwölf erstmals verheiratet worden. Doch bereits nach wenigen Monaten wurde der Ehemann Giovanni Sforza von den Borgia, die ihm Impotenz nachsagten, zum Verzicht gedrängt (er revanchierte sich, indem er den Papst und Lucrezias Bruder Cesare, einen der brutalsten Warlords der Renaissance, des Inzests mit der ihm Angetrauten bezichtigte). Der nächste Gatte, den die Familie der Ikone zuteilte, Alfonso von Aragon, bescherte ihr 1498 einen ersten Sohn (dieser Rodrigo mutierte in Roman und Oper zum jungen venezianischen Capitaine Gennaro, der sich auf der Suche nach der ihm unbekannten Mutter befindet). Don Alfonso, Herzog von Bisceglie und Prinz von Salerno, überlebte die Geburt seines Thronfolgers nicht lange. Genesend von einem durch unerkannt bleibende Täter ausgeführten Mordanschlag wurde er – Augenzeugenberichten zufolge – in den päpstlichen Gemächern am 18. August 1500 von einem Hauptmann Cesare Borgias erdrosselt. Das war die nächste Lektion fürs Leben: Lucrezia begriff, wie sehr es für die Selbstverwirklichung auf Willensstärke und faktischen Erfolg ankommt. Noch vor Ablauf des Trauerjahrs arrangierte Alexander VI. für sie die dritte Ehe – mit einer gewaltigen Geldsumme und unterstützt von der militärischen Drohung durch seinen Sohn Cesare, der mit seiner Soldateska das Herzogtum Ferrara bedrohte, veranlasste er dessen widerstrebenden Regenten zur Einwilligung.
Mit dem Alltag dieser nicht aus Liebe vollzogenen Verbindung setzt die Oper ein: Herzog Alfonso I. d’Este von Modena und Ferrara weilt mit Lucrezia zum Karneval in Venedig – und sie stößt, auf der Suche nach einer raschen erotischen Abwechslung, auf Gennaro (der sich sofort zu ihr hingezogen fühlt), aber auch auf dessen männerbündischen Freundeskreis, dessen Mitglieder (bzw. deren Familien) alle die schlimmsten Erfahrungen mit den Borgia gemacht haben. Der Gatte wittert Ehebruch und beschließt den Jüngling in sein Herrschaftsgebiet zu locken und dort zu beseitigen. Und so kommt es auch.
Zunächst also Venedig. Dessen Karnevalstreiben entrollt sich im weiten Rund des Cirque Royal auf der spiegelnden Fläche, die über die Arena gebaut wurde. Ein golden gekrönter Tod mit kahlem Schädel und ein rothaariger schwarzer Teufel greifen mit riesigen Armen auf die Spielfläche zu. Links vom sichtbar agierenden Orchester wartet ein Portal mit dem Neon-Schriftzug Borgia (Gennaro zerschießt, als er sich gegenüber seinen Freunden zeitweise als Feind der Borgia profilieren will, das B, sodass nur mehr „orgia“ leuchtet). Über dem vielverheißenden Tor schmücken zwei wohlgeformte nackte Frauenbrüste einen Balkon, von dem aus Lucrezia später auch singt. Die gewaltigen Symbole des Bühnenbildners Johannes Leiacker, dessen Bildersprache durch die Bregenzer Festspiele und deren mediale Vermarktung weithin bekannt wurde, spielen mit Motiven historischer Malerei und stellen die Bezüge zur Renaissance-Zeit her. Rechts vom Orchester leidet und tröstet eine Mater dolorosa. Mit dickem Zeigefinger wird hervorgehoben, dass die Herren der italienischen Fürstentümer sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch des kunstfertigen religiösen Pomps bedienten, um Reichtum und Machtansprüche öffentlich zu dokumentieren.
Der vom Leben bereits hart geprüften Lucrezia verleiht Elena Moşuc in mehr als angemessener Weise Figur und Stimme. Auf der weiten Theaterfläche setzt ihre (nicht immer ganz spursichere) Stimme die Titelrolle energisch und glänzend durch. Überzeugend steuert sie in den mörderischen Intrigen am Hof von Ferrara ihren eigenen Kurs, kann aber den Tod ihres Sohnes Gennaro nicht abwenden. Der amerikanische Tenor Charles Castronovo gibt den lebenslustigen schönen Renaissancejüngling nicht minder überzeugend und singt dessen Partie mit Verve. Auch der schlanke und hoch gewachsene Paul Gay, der Herzog von Ferrara, erweist sich mit seinem distinguierten Bassbariton als vorzüglicher Sängerdarsteller und Silvia Tro Santafé legt in der Hosenrolle des bis in den Tod getreuen Freundes Orsini eine Glanzleistung aufs Parkett.
Das Verdienst der Reaktivierung von Donizettis rarer Oper durch das Team des Théatre de la Monnaie liegt nicht zuletzt darin, dass die Produktion in Erinnerung rief, wie sehr sich Richard Wagner als sein eigener Librettist an zentralen Motiven der „Lucrezia Borgia“ orientierte. Und Giuseppe Verdi als Komponist, der in „Luisa Miller“ wie in der Ballszene des „Rigoletto“ ebenso hörbar hier anknüpfte wie noch in den Freundestreueschwüren des „Don Carlos“.