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Klassik war gestern: Grenzgänger Fazil Say im Konzerthaus Dortmund. Foto: Mark Wohlrab
Klassik war gestern: Grenzgänger Fazil Say im Konzerthaus Dortmund. Foto: Mark Wohlrab
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Dortmund high – dank Fazil Say: „Istanbul-Sinfonie“ mit WDR Sinfonieorchester uraufgeführt

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Dortmund im Glück. Nachmittags gegen Bochum das Ruhrderby gewonnen, abends Konzerthaus-Party mit Fazil Say, den ans Revierherz gewachsenen Residenzkünstler, den gebärdenreichen Klaviervirtuosen, den Komponisten einer „Istanbul-Sinfonie“. Ausverkauftes Haus. Stehende Ovationen. Eine Uraufführung als Meisterschaftsfeier. „Neue Musik“ muss man dazu nicht unbedingt sagen.

In die Satzpausen prasselt der Beifall. Da kommen, bei sieben Teilen (nach den sieben Hügeln der Bosporus-Stadt) die Hände kaum zur Ruhe. Anfänglicher Unmut bei klassiksozialisierten Zaungästen und Zugereisten verfliegt schnell, ist es doch tatsächlich das pure Hörerglück, das sich hier und jetzt Bahn bricht. Was immer ein launig zu Werke gehendes WDR Sinfonieorchester unter Howard Griffiths mit diesem Auftragswerk anstellt, wird anerkannt und wiedererkannt. Sofort. Alles in dieser klangmalerischen „Symphony No. 1 for an extra large orchestra and Turkish instruments“ geht runter – so wie irgendein Ayran-Yoghurt, wie ein deftig gewürztes Kuzu sis mit Heißhunger weggeputzt wird. Da bleibt kein Brocken hängen, woran lustfeindlich rumzukauen wäre.

„So klingt nur Dortmund“, steht auf dem wie ein Batiktuch designten Programmheft. Doch alle, das ganze Revier, dürfen sich mitfreuen über diesen „absoluten Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahres“. (Steven Sloane) Das Licht der in Dortmund entzündeten Fazil Say-Kerze fällt aufs ganze Großprojekt „Ruhr 2010“. Kein Wunder, dass die Kulturhauptstadt nun zu wissen glaubt wie sie klingt und (nicht wenige fügen schon hinzu) wie sie zu klingen hat. Recht eindeutig die Tendenz der Meinungen in den Gesprächsrunden vorweg, zwischendurch, hinterdrein. Ist es nicht ein Modell (wird da kaum mehr nur rhetorisch gefragt), wie Dortmund auf das Wegbrechen des Klassikpublikums reagiert, wie es seine Antwort platziert!? Im Einführungsgespräch wirft Say-Verleger Bernhard Pfau vom Schott-Verlag einen Namen in die Runde: Erich Wolfgang Korngold, jenes formidable Genie im Wien der zwanziger Jahre, das ja auch im Schatten eines neuen und alten Establishments stand. Und damit ab ins (vollbesetzte) Konzerthaus.

Mit Gershwins Rhapsody in Blue und dessen groovigen Variationen über „I Got Rhythm“ läuft sich Fazil Say warm. Die Leute mögen seine Art; dieses extrovertierte, vom Klavierhocker ins Orchester Hinüberschauen, diesen forciert mimischen Blick bei den Einsätzen der anderen und wie er sich im entscheidenden Moment die Ärmel hochkrempelt. Jetzt aber! Herschaun! heißt das immer. So wie man einst John Lennon den Rat mit auf die deutsche Bühne gab – „Make show!“ – so macht es nun Fazil Say. Klassik war gestern. Für Say ist das alles sowieso nur verstaubt. Jede Bühne, die er betritt, wird zum Club. Und sein Publikum gibt ihm recht darin, liegt ihm zu Füßen. Überhaupt ist letzteres die eigentliche Überraschung. Es ist ein neues Publikum, das (so der Augenschein) den stattlichen Migrationsanteil der Revierbevölkeung glaubwürdig abbildet. Für die türkisch-stämmigen Dortmunder ist Fazil einer von ihnen. Einer, der wie sie, auch wenn schon in der dritten Generation hier lebend, vom Bosporus kommt. Eine Liason, der Say in seiner „Istanbul-Sinfonie“ unverhohlen huldigt. Die Spieler der Ney-Flöte, des Kanun, eine Art Cymbalon und der Kudum, eines bongoähnlichen Schlaginstruments sind extra eingeflogen, sitzen als exotischer Farbtupfer vorn vor den ersten Geigen. Koloritgeber, Projektionsflächen der Wiedererkennung, der Identifikation – wie diese filmmusikalische Klangmalerei im Ganzen. Scharf und süßlich, leise und dann, vor allem im Finale ohrenbetäubend laut, so dass man meint, die Chorempore müsste im nächsten Moment in sich zusammenfallen. –

Noch einmal davongekommen, dämmert es, dass die Entdeckung Fazil Say und dieser fulminante Abschluss einer fünfjährigen Konzerthaus-Residenz in jeder Hinsicht dem Konto des Intendanten Benedikt Stampa gutzuschreiben ist, dem man die Karten förmlich aus der Hand gerissen hat. Ein Intendant mit dem richtigen Riecher, einer, der mit Fazil ganz auf Sieg gesetzt und dem der Erfolg recht gegeben hat. Ob das nun „neue Musik“ heißt oder nicht – egal. Und die Frage, inwiefern eine vollkommen improvisiert wirkende „Istanbul-Sinfonie“ sich vor irgendeinem Orchestermusik-Standard zu rechtfertigen hat – müßig. Alles Schnee von gestern. Und, bitteschön, wer wollte schon bestreiten, dass all die schönen Modelle einer recht und schlecht funktionierenden Klassik-Vermittlung in Dortmund wie beinahe im ganzen Revier schlichtweg abgemeldet sind? So ist der Traditionsbruch nirgends deutlicher geworden als bei diesem Uraufführungskonzert, das den Namen „Sinfonie“ bereits wie eine potemkinsche Kulisse vor sich herträgt. Darauf (ob wir wollen oder nicht) ist Fazil Say ebensogut die Antwort wie Teil des Problems.

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