Hauptrubrik
Banner Full-Size

Ferchow vor der Röhre – die pelzige Geschmacksleere der MTV Europe Music Awards

Autor
Publikationsdatum
Body

Vorab war klar: Es braucht eine gepflegte Portion Unvoreingenommenheit, die 15. MTV Europe Music Awards aus Liverpool zu überstehen. Zu oft hat uns MTV mit schwammigen Popkleister eingeseift und uns statt Stars Clowns und statt einer Popgala einen Narrenzirkus präsentiert.

Die Werbetrommel für die MTV Europe Music Awards 2008 lief bereits seit Monaten. Videoclips stellten im täglichen MTV Programm die Kategorien und Nominierten vor. Die Kids durften online voten, wer ihr favorite und letztlich winner ist. Damit die konsumsüchtigen Teenies den PC wieder verlassen und die Werbepausen der Gönner vernehmen, wurde ein Großaufgebot an Stars nach Liverpool bestellt: Beyoncé, Duffy, Pink, The Ting-Tings, The Killers, Take That (in um Robbie Williams dezimierter Aufstellung) und als Gastgeberin Katy Perry, die man als Mittdreißiger irgendwie verpasst hat. Aber definitiv nicht kennen muss, wie der Abend eindrucksvoll untermauerte.

Jene eröffnete die Show mit einem Ritt auf einem Kirsch-Lippenstift. Der Versuch live zu singen mag löblich sein, ging allerdings vollständig in die Hose. Gerne hätte man sich am Hintern der Lippenstift-Attrappe ein paar ausrangierte NASA-Triebwerke gewünscht und die Gastgeberin mitsamt ihrem Gefährt gen Mond geschossen. Ein fürchterlicher Auftakt. Die sonstigen Livedarbietungen gestalteten sich überraschender Weise leidlich. Wenngleich Take That stimmlich arge Fragilität offenbarten und besser im Grundschulchor aufgehoben wären. Höhepunkt sicher der Killers-Auftritt. Auch weil MTV da seiner Vorreiterrolle als visuelles Musikmedium gerecht wird. Ein Spektakel an Auftritt, Licht und Performance. Leider bis auf den Gesang nicht live. Zumindest waren am Schlagzeug keine Mikrofone zu entdecken und die Keyboards kamen aus dem „off“. Hätten die eigentlich nicht nötig. Aber wer zahlt, schafft an.

Entmutigend dagegen die Involvierung des amerikanischen Moderators Perez Hilton, der sich in den Staaten über das Internet einen Namen machte und seither als schwules und androgynes „Enfant terrible“ mit einem unlustigen Frohmut Promis in peinliche Fangfragen lockt. Gähnend apathisch seine Zuschaltungen und seine aufgedrehte, koksige Selbstinszenierung.

Völlig überraschend gewann US-Sängerin Britney Spears in den zwei Hauptkategorien „Album des Jahres“ und „Act 2008". Eigentlich dachte man, die Gute fährt nur noch ihre beiden Kinder besoffen durch die Gegend. Von einem Album war doch 2008 wirklich nichts zu hören. Anwesend war sie dann lieber doch nicht. Wahrscheinlich durch eine Fußfessel verhindert.

Zusammenfassend eine prinzipiell solide, unaufgeregte und vorhersehbare MTV Show, die da am 6. November ablief. Nichts zum Aufregen, nichts zum Loben. Freilich. Man kann sich nun grämen und doch auf MTV einhauen. Muss das sein, so eine Veranstaltung? Braucht man das wirklich? Na ja. Offensichtlich braucht es vor allem MTV. Das Selbstlob scheint unerlässlich in der langen Vergangenheit des Senders. Die Frage ist nur, wie weit darf das gehen? Und: Inwiefern dürfen sich Musiker von so einer Show-Posse, denn mehr ist es nicht, vereinnahmen lassen?

Da werden Preiskategorien erfunden, die in Englisch kaum, in Deutsch noch viel weniger transportabel sind und Fragen aufwerfen. Was heisst denn „Best Act Ever“? Die beste je da gewesen Band? Zählen da auch tote oder allein agierende Künstler? Und auf was soll die Schublade bezogen sein? Alben, Singles, Hits, Liveauftritte, Außendarstellung, Kreativität? Und kann man Bands wie Tokio Hotel oder Metallica in einen Topf stoßen? Die Einen sind seit drei Jahren da und in drei Jahren wieder weg. Die Anderen knüppeln sich seit über 20 Jahren durchs Business. Wo ist die Verhältnismäßigkeit?

Und dann untergraben derartige Kategorien ja stets den Anspruch der Musik, ein Teil der Kultur zu sein. Musik hat individuelle Effekte und stellt sich jedem Hörer anders dar. Was bringt ein solcher Preis der Band, dem Publikum und MTV? Dass Tokio Hotel prompt den „Best Act Ever“ erwerben, mag mit der halbwüchsigen Wählerschaft erklärbar sein. Aber die vorher waltende Willkür und Beliebigkeit der Nominierung erzeugt trotzdem eine pelzige Geschmacksleere.

Und selbst MTV kommt wie all die anderen Preisverleiher namens „Bambi, Goldene Kamera usw.“ nicht umhin, eine Prämierung ins Programm zu nehmen, die Glaubwürdigkeit vorgaukelt. Um den noch lebenden alten Künstlern das Finale in Aussicht zu stellen und erträglich zu gestallten, werden Lebenswerk-Preise inflationär ausgeschüttet. Bei MTV heißt der Friedhofs-Preis „Ultimate Legend Award“. Und wer anders als Sir Paul McCartney könnte den in Liverpool entgegennehmen? Der Erfinder des Pop, der mit viel Nebel und Hurra natürlich von Bono Vox (U2) geehrt wird. Das war des Pathos zu viel und unnötig.

Abschließend betrachtet waren die 15. MTV Europe Music Awards aus Liverpool der verzweifelte Hilfeschrei eines Musiksenders, der jung bleiben möchte und den Schuss nicht gehört hat. Eine Weiterentwicklung war kaum festzustellen. Zu viel ist nach wie vor dem Kommerz und der affektierten, durchorganisierten Show untergeordnet. Inhalt und Nachhaltigkeit bleiben Fremdwörter. Die Anbiederung ans Internet und damit ans junge Publikum wird am Image des nach Profil suchenden nichts ändern. Früher oder später werden die Kids kapieren, dass Klingeltöne und Elchfurzen nur bedingt Musik repräsentieren. Und sich dann abwenden. Ob es die 20. MTV Europe Music Awards (vielleicht dann aus dem neuen EU-Mitgliedstaat USA) noch geben wird, scheint auf Grund der derzeit nicht stattfindenden Entwicklung des Senders mehr als fraglich.

 


Ergänzend dazu eine ddp-Meldung vom 22.11.08:
Zeitung: MTV vergibt Music Awards in Berlin
   Berlin (ddp-bln). Die 16. MTV Europe Music Awards sollen 2009 in Berlin verliehen werden. Einem Bericht des «Tagesspiegels» (Samstagausgabe) zufolge ist die Entscheidung über die Verleihung des Musikpreises nun gefallen. Der Musiksender MTV wolle allerdings erst am Mittwoch offiziell zu dem Thema Stellung nehmen. Zu der Pressekonferenz werde auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) erwartet. Von ihm soll nach Angaben des Blattes die Initiative ausgegangen sein, dass der Sender die Preise in Berlin statt in Amsterdam vergibt.

   Die Verleihung der MTV Europe Music Awards findet üblicherweise im November statt und wird in 40 europäische Länder übertragen. Es werden die besten nationalen Künstler per Internet-Abstimmung sowie in acht übergreifenden Kategorien wie «Album des Jahres» oder «Video Star» auch internationale Künstler gekürt.

   Im Jahr 1994 hatte der Musiksender die internationale Preisverleihung in Berlin als Gegenstück zu den amerikanischen MTV Video Music Awards ins Leben gerufen. Seitdem zog die Gala jedes Jahr in eine andere europäische Stadt. 2007 fand die Verleihung in München statt.
 

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!