Der Londoner Kupferstecher William Hogarth schuf mit seinen Illustrationen zu Georg Christoph Lichtenbergs „Weg des Liederlichen“ ein Sittengemälde aus dem Herzen der britischen Hauptstadt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Es beruhte auf ziemlich tatsächlichen Begebenheiten. 1951 präsentierte das Teatro La Fenice die Uraufführung von Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“. Das Libretto von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman erzählte die Stichfolge nach.
In Anknüpfung an Strawinskys venezianische Oper und als weibliches Gegenstück zum „Rake“, dem Wüstling, komponierte der junge Londoner Komponist Iain Bell nun, wiederum gestützt auf die drastischen Hogarth-Stiche, eine weitere Oper: Sechs Szenen und vier Interludien, die dem Auf- und Abstieg der Moll Hackabout beiwohnen. „A Harlot’s Progress“ lässt sich mit „Fortschritte einer Mätresse“ übersetzen oder auch, in der Intonation der Entstehungszeit der Bildvorlagen, mit „Eine Metzenkarriere“.
Iain Bell wählte ein ausgesprochen delikates und gesellschaftlich fortdauernd brisantes Sujet. Es geht um Auf- und Abstieg einer jungen Frau vom Lande auf dem großstädtischen Liebesmarkt. Womöglich hätte es der historischen Kostümierung gar nicht bedurft, um vor Augen zu führen, dass eine Hure nicht von vorneherein eine Hure ist, sondern dazu gemacht wird. Oder um in Erinnerung zu rufen, dass es im Sex-Business manierlichere und brutalere Geschäftsformen gibt. Aber da die Oper nun einmal von Anfang an eine zutiefst historisch geprägte Kunstform ist, erscheint allgemein als akzeptabel, dass die ausgesungene und massiv orchestergestützte Verhandlung einer kurzen Glamourzeit der Miss Molly, ihr Abstieg auf den Straßenstrich, ihr Absturz ins gesellschaftliche Abseits und der triste Tod ohne Bezugnahme auf heutige Londoner oder Wiener Karrieren gestaltet wurde.
Auf der Bühne steht, nachdem das Mädchen aus Yorkshire von Mutter Needham in Empfang genommen und dem reichen Kaufmann St. John Lovelace zugeführt wurde, ein luxuriös bezogener weicher Pfühl. Beim Liebesakt, so wollte es Regisseur Jens-Daniel Herzog, muss sich der alternde Ersterwerber der Jungfrau mit seinem zunehmend angeschlagenen Herzen ziemlich mühen. Der Galan und Zuhälter James kommt rascher zur Sache (die Pauke gibt – trivialer geht es kaum – allemal den Rhythmus vor). Gewalttätig sind sie beide. Und da die Geschichte ja erwartungsgemäß in Verderben, Elend und Depression endet, schneit es schon früh schwarze Schnipsel. Wahrscheinlich handelt es sich um Londoner Ruß aus einer Zeit, die noch keine Abgasverordnungen kannte. Jedenfalls um ein drastisches Theatersinnbild.
Weil der alte Geck Argwohn schöpft, prompt auch eine fremde Männersocke in dem von ihm ausgehaltenen Lotterluxusbett findet, verliert Moll die Privilegien der großbürgerlichen Mätresse. Die vom eher scheinheiligen als heiligen St. John bestochenen Polizeibüttel spielen bei der Exmittierung ihre klassische unrühmliche Rolle. Auch dank dieser Freunde und Helfer kommt Moll herunter (und die als Mitglieder einer voyeuristischen Gesellschaft sehr präsenten Choristen kommen nun auch individuell zum Einsatz). Das „gefallene Mädchen“ wird mit der Syphilis infiziert. Sie wird geschwängert. Sie entbindet unter unsäglichen Umständen. Sie verfällt dem Wahnsinn und stirbt jämmerlich. Der von ihr irgendwie aufrichtig geliebte James wurde mittlerweile als Dieb gehängt.
Bell stattete des kontrastreiche, leicht angelegte und früh dunkel befleckte Leben mit einem weithin ziemlich dickflüssigen Orchestersatz aus, der allerhand Ingredienzen der Literaturopernkompositionen des 20. Jahrhunderts kompilierte. Das Bemühen um differenzierte Ausgestaltung der einzelnen Episoden ist erkennbar, wird aber nicht wirklich sinnfällig, wiewohl sich Mikko Franck mit den Wiener Symphonikern redlich müht, die Farben kräftig aufzutragen. Nathan Gunn beglaubigt mit seinem lyrischen Bariton den hochgradig liebesfähigen Zuhälter auf sympathische Weise (man versteht, warum Moll auf diesen Burschen abfährt). Christopher Gilett nutzt die Rolle des alten Ekels nach besten Kräften. Virtuos spielt er die Macht des Geldes aus, bedient egoistisch sogar einen Bodensatz gediegener Bildung: „Dein ist mein Herz“. Er könnte ein gutgehender Wiener Geschäftsmann von hier, heute und nebenan sein. Die Titel- und Paraderolle der Moll Hackabout wird von Diana Damrau glänzend bestritten. Die Sopranistin gibt die launische Geliebte so überzeugend wie die mit großer Arie durchdrehende junge Frau. Wunderschön seufzend entwickelt sie Sehnsucht nach der ländlichen Heimat, die sie niemals wiedersehen wird (schluchz!).
Strawinsky schuf mit seinem „Rake“ vor etwas mehr als sechs Jahrzehnten ein mehrschichtiges Werk, in dem es vordergründig um Sitten und Gebräuche in London um 1725 geht. Aber diese prototypisch neoklassizistische Oper kommentierte auch ironisch das Freiheitspathos von Beethovens „Fidelio“ und eine mit Puccini konnotierte Rührseligkeit; sie knüpfte an Faust-Motiven und Übermensch-Ideologie ebenso an wie am griechischen Mythos. Von solcher Hinter- und Abgründigkeit ist in der neuen Hogarth-Adaption nichts zu erkennen. Diese Arbeit ist im Erdgeschoss angesiedelt, wo es direkt und „emotional“ zugeht, so gar nicht sophisticated wie in Strawinskys Dachetage. Mit einem Produkt aus solcher luftigen Höhe sollte die kompositorisch zurückgebliebene „Harlot“-Partitur fairerweise auch nicht ins Verhältnis gesetzt werden, obwohl es die Bell-Gier darauf anlegte. Es wäre, als würde man Charpentiers gut gemeinte „Louise“ mit Meyerbeers opernweltbewegenden „Hugenotten“ vergleichen, nur weil diese beiden Opern in Paris spielen.
Zum Zwecke der Einordnung von „A Harlot’s Progress“ aber kann nun ein Seitenblick auf jenen freundlich-harmlosen Gustave Charpentier hilfreich sein. Dieser schrieb vor hundert Jahren mit „Louise“/„Julien“ einen musikalischen Heimatfortsetzungsroman, der dem kleinbürgerlichen Paris des Fin de siècle ein Denkmal setzte. Womöglich versuchte Bell nun etwas Analoges hinsichtlich seiner Vaterstadt London. Während „Louise“ den noch ländlich-idyllischen Südhang von Montmartre in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens rückte, die rasante Industrialisierung überhörte und die Urbanisierung der Umgebung übersah (mithin nur ein wenig anachronistisch war), greift Bell vorsätzlich in den Rachen der Geschichte. Er beschwor eine Themse-Metropole, die zwischen Kerzenschimmer des großen Geldes und den dunklen Abgründen einer noch nicht illuminierten Großstadt changiert.
Repräsentiert sieht der Komponist deren Sound durch seine Art, eine „sechzigköpfige Hydra“ zu bedienen – mit diesem Ungeheuer meint Bell das Orchester, das „passenderweise aus dem Graben, dem Untergrund, heraus seinen Klang verströmt“. Der Wille zum Strömen bzw. Strömenlassen mag einerseits wesentlich den freundlichen Zuspruch des Premierenpublikums ausgelöst haben, andererseits ist er der Logik und Intention der Hogarthschen Stiche diametral entgegengesetzt. Wieder einmal ein Missverständnis als Voraussetzung von Oper?
Mit den einfachen, unmittelbar evidenten und einprägsamen Ausstattungselementen von Mathis Neidhardt in einer zunächst von Szene zu Szene sich verengenden Bühne und mit den historisch prächtigen Kostümen von Sibylle Gaedecke entwickelt die Uraufführungs-Inszenierung anheimelnden Charme (am kostümfilmmäßigsten in der dicht gedrängten Gefängnis-Szene, in der Moll eigentlich Hanf klopfen müsste, aber – o Wunder der Regie-Assoziation! – am Galgenstrick für James fingert). Bei der Personenführung setzte Regisseur Herzog auf outrierte Gesten, die auf dem Umweg über amerikanische TV-Serien wieder ins Stadt- und Staatstheater des deutschsprachigen Raums zurückkehrten, nachdem sie dort eine Zeitlang als verstaubt galten und nach Kräften verbannt wurden.
Fazit: Dekorativer Abschaum des 18. Jahrhunderts auf der Bühne, musikalischer Abraum des 20. Jahrhunderts im Orchestergraben und den Gesangspartien.