Möchte man sich die Auferstehung Jesu tatsächlich von drei Blockflöten verkünden lassen? Daran lässt sich zweifeln. Doch der Komponist, Thomaskantor Georg Christoph Biller, geht hier keinem geschmacklosen Klischee auf den Leim, sondern verleiht der naiven Stimme dieses verschrienen Instruments die Kraft des Staunens und führt damit das Wunder vor Augen. Keine reine Orgie der Freude soll sie sein, seine „St.-Thomas-Ostermusik“, sondern soll den Schritt aus der Finsternis ins Licht nachvollziehbar machen.
Eine Festmusik ist Billers Komposition „Christus, das Licht“ in jeder Hinsicht: nicht nur das Osterfest würdigt er darin aufs Intensivste, sondern auch seinen verehrten Amtsvorgänger Bach und – zur Feier des 800. Jubiläumsjahres – den Thomanerchor selbst. Aus diesem Anlass hat das Bach-Archiv fünf Festmusiken für die Thomaner an fünf Komponisten sehr verschiedenen Charakters in Auftrag gegeben, die zu den höchsten Kirchenfeiertagen Ostern, Pfingsten, Reformationstag, Weihnachten und Epiphanias erstmals erklingen sollen. Damit will man die ursprüngliche, heute aber weitgehend verlorene Bestimmung des Chors, neue Werke zu Ehren Gottes der Gemeinde darzubringen, wieder erwecken.
Der österliche Auftakt von Thomaskantor Biller kommt dabei einer Art glanzvollem Heimspiel nahe. Denn wer kennt den Chor, wer dessen musikalische und religiöse Tradition besser als er? Als ehemaliger Thomaner ist er zudem selber untrennbar mit dieser Tradition verwachsen, was sehr deutlich aus seiner Ostermusik spricht. Die Texte hat er hauptsächlich aus Bibelworten zusammengestellt. Da und dort zitiert er die Choräle „Christ ist erstanden“ und „Wir glauben all an einen Gott“ mal instrumental, mal vokal mit je differentem Text. Ein Großteil der musikalischen Textur setzt sich aus Anspielungen, oder vielmehr aus Assoziationen zusammen. Und da ist ihm die anwesende Kirchgemeinde beim Ostergottesdient wohl ein geeignetes wie gewogenes Uraufführungspublikum.
Eines der zwei Hauptelemente, auf die Biller aufbaut, ist ein c-Moll-Akkord mit Septvorhalt, der in dreifacher Wiederholung das Stück eröffnet – es ist nichts Geringeres als die Schlussfiguration der Matthäus-Passion. Daraus erhebt sich das Englischhorn mit einer Kantilene über verhaltene Posaunenklänge im tiefen Register. Eine deutliche Sprache der Trauer – ganz der großen musikalischen Tradition der Klage verhaftet. Ebenso deutlich durchbricht diese Finsternis der Ruf „Christus, das Licht“ mit dem Klang der Blockflöten. Diese signalhaften Motive leiten durch das gesamte Werk, wandern von Instrument zu Stimme, einmal nur fragmenthaft, dann wieder in ganzer Ausprägung. Der Schritt von der Dunkelheit ins Licht lässt sich unmöglich verpassen.
Weit entfernt von der „neutönerischen“ zeitgenössischen Musik, ist es Billers Absicht, mit seiner Musik eine nachvollziehbare Botschaft in einer klaren Klangsprache zu vermitteln. Das Vertrauen in diese Kommunikation mit seinem Publikum geht so weit, dass er sogar die Gemeinde in die Komposition mit einbezieht: zweimal fordert er sie dergestalt, dass sie mit einem Choral einzusetzen und dabei gegen einen 7-stimmigen Chorsatz der Thomaner anzusingen hat. Und es funktioniert erstaunlicherweise ohne weiteres.
Aus dieser unverblümten Deutlichkeit heraus offenbart sich auch ein gewisser Hang Billers zur Dramatik. Das Spiel mit der stimmungsvollen Untermalung und den perkussiven Effekten, etwa zum Evozieren eines Erdbebens, läuft bisweilen ein wenig aus dem Ruder und macht nur haarscharf vor der Grenze zur Filmmusik halt. Auch im Blick auf Tonalität hält er uns in der Schwebe, wandert auf einer Art Grenze und betritt immer wieder, als sei es ungewollt, freitonales Gelände, um auf harmonisch sicheren Boden zurückzukehren zu können – in die Arme der affirmierten Tradition.
Ungewöhnlich ist die instrumentale Besetzung bestehend aus 19 Bläsern, Schlagwerk und Kontrabass. Doch gerade die nicht vorhandenen Farben in der instrumentalen Klangpalette lassen die stimmlichen Nuancen im Chor umso stärker hervortreten. Denn der Thomanerchor ist das Instrument, das ihm eindeutig zweite Natur ist. Aus ihm holt er einen direkten, kraftvollen Klang, der den enormen Raum der Thomaskirche mit allem, was sich darin befindet, von strahlender Wucht zu erfassen vermag. Längere für den Chor unisono gesetzte Passagen zersetzen sich immer wieder fließend in eine Vielzahl auseinanderdriftender Stimmen, die sich zu einem echoartigen Effekt versetzen, in Intervallparallelen chromatisch mäandern, dabei einen Reichtum an Textur freilegen, bevor sie wieder zu einer Einheit zusammenfinden.
Der melodiös, gesanglich komponierte Satz liegt für die Stimmen optimal, sodass die Knaben keine bösartigen Hindernisse überwinden müssen. Die dynamische Differenziertheit, die Biller mit seinem Chor zustande bringt, zeugt nicht nur von gewaltiger Erfahrung im gemeinsamen Musizieren, sondern auch von Vertrauen. Der Chor singt nicht nur die Choräle des 7-sätzigen Werks, sondern verkörpert in der Zwiesprache mit den Solisten des Ensembles amarcord auch die Stimme Jesu. Ein schöner Gedanke mit fulminanter Wirkung.
Aus c-moll wird zum Schluss ein leuchtendes C-Dur – das Licht steht in der Welt. Keine kryptischen Botschaften, keine doppelten Böden, keine musikalisches Neuland. Biller hat in den Kontext seiner Bestimmung hineinkomponiert: das Werk ist Teil des Gottesdienstes und soll als Repertoirestück für den Chor taugen. Die Komponisten der folgenden vier Festmusiken, Hans-Werner Henze, Heinz Holliger, Brett Dean und Krzysztof Penderecki, werden mit großer Wahrscheinlichkeit sehr anders verfahren. Und so soll es auch sein. Denn die einzige Vorgabe der Auftraggeber, nebst einem gewissen Bezug zum jeweiligen Kirchenfest, betrifft den Umfang des Werks: er soll sich in der Größenordnung einer Bach-Kantate bewegen.