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Rodion Shchedrins „Lolita“ in Wiesbaden. Foto: Martin Kaufhold
Rodion Shchedrins „Lolita“ in Wiesbaden. Foto: Martin Kaufhold
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In ungewöhnlicher Dichte: Deutsche Erstaufführung von Shchedrins „Lolita“ in Wiesbaden

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Rodion Shchedrins 1994 in Stockholm uraufgeführte „Lolita“ hat es schwer, im Vergleich mit der Roman-Vorlage von Vladimir Nabokov und ihren diversen Verfilmungen, wie auch gegen Hollywood, dessen Verträge Aufführungen der Oper juristisch im Wege stehen, am schwersten aber mit der eigenen Partitur selbst, die das vom Komponisten eingerichtete Libretto all zu monoton in Töne gefasst hat.

Wenn es in Wiesbaden zur Eröffnung der Maifestspiele dennoch über einen ungetrübten Erfolg zu berichten gilt, so ist dies allein einer besonders spannenden szenischen Umsetzung durch ein erstklassiges Solistenensemble, Hand in Hand mit einer musikalischen Verdichtung durch das Orchester des Hessischen Staatstheaters zu verdanken.

Nach „Lulu“ und „Elektra“ in den Vorjahren, war zur Eröffnung der diesjährigen Wiesbadener Maifestspiele „Lolita“ ebenfalls als Literaturoper angekündigt. Tatsächlich hat der 1932 in Moskau geborene Komponist nach diversen Balletten und zwei Opern das Libretto zu dieser Partitur linear aus der russischen Übersetzung von Nabokovs Roman entwickelt, wobei seine Dramaturgie der Geschichte der Zuneigung des Dichters Humbert Humbert zu seiner pubertierenden Stieftochter Lolita aus der Rückblende der Gerichtsverhandlung des als Sexmonster zum Tode verurteilten Humbert entwickelt. Allerdings malt dies die Musik, dem möglichst kompletten Texttransport verpflichtet, all zu gleichförmig und larmoyant.

Aufgelockert wird sie nur durch die Zutaten eines Advertising-Duetts zweiter Reklamemädchen, die erst für Kondome, dann für Zigaretten werben. Zu den wenigen Momenten von Abwechslung zählen weitere Collage-Momente der Liturgie, die dem Dies Irae verwandten Männerchöre der Ankläger und die um marianische Gnade bittenden Kinderchöre, „Ora pro nobis“. Und – wohl nicht ohne Selbstironie – integrierte der Komponist, mit Bezug zu seinem erfolgreichen Bizet-Ballett „Carmen“, eine spielerische Carmen-Szene zwischen Humbert und seinem Opfer Lolita als Bizet-Zitat.

Für die Wiesbadener Inszenierung wurde die Partitur – mit Zustimmung des Komponisten – um nahezu ein Drittel verkürzt. Obendrein hat der für den erkrankten GMD Marc Piollet eingesprungene Wolfgang Ott die Tempi gegenüber den Metronomangaben erheblich angezogen, was dem Gesamtablauf ebenfalls zugute kommt.

Außer den Scheinwerfern jenes Wagens, der Charlotte Haze überfahren hat, gibt es, trotz der Road-Movie-Dramaturgie des zweiten Teils, keine Auto–Assessoires. Mit gelben und weißen Luftschlangen, Popcorn und amerikanischen Fähnchen, hält sich der spielerische Ausstattungsaufwand in Grenzen. Im Bühnenraum von Andreas Jander, mit einem Park aus Spaghettivorhängen, umschlossen von einem Geviert hilfeheischender Kinderzeichnungen Lolitas, kreist eine Kunstlandschaft auf der Drehbühne, angereichert um weitere, um sich kreisende Elemente, mit Matratzenlagern und einer Reihe von Minibars.
Der Abend lebt von der Dichte der szenischen Einfälle in der Inszenierung Konstanze Lauterbachs, die auch für die originellen und in ihren diversen Amerikabezügen witzigen Kostüme verantwortlich zeichnet.

Das auch stimmlich hochwertig besetzte Solistenensemble und der von Anton Tremmel einstudierte Herrenchor angsteinflößender Normalbürger agiert in einer darstellerischen Qualität, wie sie sonst bestenfalls im Schauspiel zu erleben ist. Durch den Kunsttrick einer Verdreifachung Lolitas, basierend auf dem Fakt, dass das Ego missbrauchter Kinder sich in Unter-Egos aufspaltet, schafft die Regisseurin im zweiten Teil der exakt gearbeiteten Personenführung eine zusätzliche Intensivierung. Im Gegensatz zur originalen Oper, aber konform mit dem Roman, stirbt Lolita bei Konstanze Lauterbach an der Geburt ihres Kindes. Da auch Humbert Humbert vor der Exekution verstirbt, erlebt der Zuschauer in Wiesbaden eine Art ortsversetzten gemeinsamen Liebestod. Gesungen wird dabei auf höchsten Niveau.

Die als zwei unterschiedliche Typen in Lady Gaga-Kostümen gewandeten Advertising Girls Simone Brähler und Inga Jäger tanzen dazu mit aufgeblasenen Kondomen und Camel-Packungen, statt der auf Englisch besungenen Dromdary Cigaretts. Anfangs mit einer Kopfwunde und einem Mantel aus Breughels Garten der Lüste, realisiert der Tenor Thomas Piffka Humberts Rivalen Clare Qulity als das Psychogramm eines Prominenten, der seine Impotenz durch Verführung von Kindern und durch ihren Missbrauch in Pornofilmen kompensiert.

Ute Döring als Lolitas überdrehte, jugendlich quirlige Mutter Charlotte Haze lässt stets die Verwandtschaft zum Nymphenwesen glaubhaft erscheinen. Weit überzeugender als bei ihrer Interpretation der Lulu vermag die Australierin Emma Pearson das Wesen zwischen unschuldigem Kind und verwahrloster Göre glaubhaft zu versinnlichen. Das größte sängerdarstellerische Erlebnis bereitet jedoch der französische Bariton Sébastien Soulès, der die sich zumeist in der Passagio-Lage bewegende Partie vielschichtig, mit exzessiv überbordendem Spiel verkörpert.

In der Pause hatte sich das Auditorium merklich gelichtet. Dies lag – im Gegensatz zur „Lulu“ vor zwei Jahren – offenbar weniger an der Tonsprache, als vielmehr daran, dass das Premierenpublikum trotz des bekannten Romans nicht wusste, was es in der Oper thematisch erwarten würde. Doch jene, die blieben, bereiteten dem Ensemble, dem Regieteam und dem anwesenden Komponisten einen ungeteilten, tosenden Erfolg, – und damit auch einen späten Triumph für die seit der Uraufführungsproduktion nicht mehr gespielte Oper.

Der Premiere im Großen Haus des Staatstheaters vorausgegangen war eine Uraufführung unter den Kolonnaden vor dem Theatereingang: Ernst August Klötzkes „Beatrice“ für vier Trompeten, vier Posaunen und Sopran schlug thematisch den Bogen zur nachfolgenden Oper. Denn die Liebe zu einer Minderjährigen ist bereits Thema in Dantes „Vita Nova“. Das fanfarenartige Werk des Wiesbadener Hauskomponisten erfüllte mit wirkungsstarkem Bläsersatz die Auftaktfunktion für Open-Air-Reden des Wiesbadener Oberbürgermeisters Helmut Müller, des Staatssekretärs Ingmar Jung und des Intendanten Manfred Beilharz. Sharon Kempton sang gegen die Banda der Studierenden der Wiesbadener Musikakademie unter Joachim Tobschall tapfer an, aber der Inhalt des Sonetts wurde nicht vermittelt, und für den italienischen Text wären die in der Shchedrin-Oper tautologisierend eingesetzten Übertitel hilfreich gewesen.

Weitere Aufführungen: 16. Mai, 1., 23., 28. Juni 2011

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