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Die Erinnerungsuhr läuft: Nikolaus Brass' „Sommertag“ bei der Münchner Biennale. Foto: Adrienne Meister / Münchner Biennale
Die Erinnerungsuhr läuft: Nikolaus Brass' „Sommertag“ bei der Münchner Biennale. Foto: Adrienne Meister / Münchner Biennale
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Jenseits der Worte: Nikolaus Brass’ „Sommertag“ und Claude Viviers „Kopernikus“ bei der Münchner Biennale

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Dem nachzuspüren und Ausdruck zu verleihen, was in, aber auch zwischen den gesungenen Worten angelegt ist: Das hat Opernkomponisten seit den Anfängen der Gattung beschäftigt. Mit großer Sorgfalt hat sich nun auch Nikolaus Brass mit seinem späten Opernerstling dieser immer wieder neuen Aufgabe gestellt. Als Grundlage seines im Rahmen der Münchner Biennale uraufgeführten „Kammermusiktheaters“ hatte er das Stück „Sommertag“ des norwegischen Dramatikers Jon Fosse gewählt.

Was Brass an Fosse interessierte, wird schnell klar. Seine schmucklos lapidare, jedoch eigentümlich rhythmisierte Alltagssprache verschweigt mehr als sie ausspricht. Sie lässt Räume für eine Musik offen, die Fragen stellt, kleinste Bewegungen innerhalb der scheinbar erstarrten Kommunikation registriert und diese hörbar macht. Dabei macht sie sich nicht breit, lässt ihrerseits Lücken stehen, die der Zuhörer mit seiner Deutung des Geschehens füllen kann.

Aufgespreizte Zeit

Die Grundkonstellation beschreibt den Zustand eines Verlustes. Durch den Besuch einer Freundin in ihrer Erinnerung angeregt, durchlebt eine ältere Frau das Verschwinden ihres von einem Bootsausflug nicht heimgekehrten Mannes noch einmal. Beide sind auch als jüngere Frauen präsent, vergangene Szenen spielen sich erneut ab, gefiltert durch die Perspektive der Rückschau. Die Zeit spreizt sich auf und mit ihr die Figuren. Den verschwundenen Mann Asle – als einziger kein Namenloser – begleitet nicht nur ein stummer „Anderer“ (also jener, der er im Alter hätte sein können), sondern auch ein rätselhaftes Alter Ego („Der Mann / Die Stimme“).

Beigeordnet sind den fünf Sängern plus Schauspieler, ohne dass sich aber starre Kopplungen ergäben, sechs eigenständige, über weite Strecken ohne Dirigat agierende Instrumentalisten: Klarinette (auch Bassklarinette), Violine, Viola, Kontrabass, Akkordeon, Schlagzeug. Mit ihrer teils sich verändernden Aufstellung tragen sie zur Raumwirkung bei, die maßgeblich vom Agieren der Sänger auf der von den Zuschauerreihen umgebenen Fläche geprägt wird.

Brass’ über weite Strecken tastende, sich zurücknehmende Musik gibt nicht vor, alles über die Menschen zu wissen, die da vielsagend Nichtssagendes austauschen. Während Asle als einziger metrisch gebunden singt, haben die anderen Sänger bei der Interaktion mit den Instrumenten eine größere Flexibilität. An zwei Stellen lockert Brass das Zusammenspiel noch weiter: Innerhalb festgelegter Zeitabschnitte können Sänger und Instrumentalisten ihren Part frei einteilen. Vor allem im ersten der beiden, jeweils etwa achtminütigen Abschnitte stellt sich eine eigentümlich schwebende, zeitlose Atmosphäre ein, während gleichzeitig die eingeblendete Uhr unerbittlich abläuft.

Auch Textzeilen werden ab und zu an die Wände projiziert. Zusammen mit gesprochenen Passagen richten sie den Fokus zurück auf die Worte selbst, die vom Gesang oft in Frage gestellt, in Vokalisen und anderen textlosen Lautbildungen aufgelöst werden. Dass die gesprochenen Einwürfe in ihrer Nüchternheit dann stärker wirken als der kunstvolle, von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart (Sarah Maria Sun, Truike van der Poel, Susanne Leitz-Lorey, Martin Nagy, Andreas Fischer) mit faszinierender Selbstverständlichkeit bewältigte Gesang, ist ein paradoxer, von Brass wohl bewusst in Kauf genommener Effekt.

Ein Fremdkörper bleibt das vor die „Peripetie“ gestellte Intermezzo für Viola solo. So fabelhaft Gunter Pretzel es auch spielt, es ist zu lang, um als Moment des Atemholens vor jener Szene wahrgenommen zu werden, in der die Gewissheit über den Ertrinkungstod Asles aufbrandet. Als ein weiteres schönes Paradox bündelt Nikolaus Brass hier in der eigentlich als „Aria“ der Älteren Frau gekennzeichneten Passage alle Stimmen und Instrumente zu einem großen Tutti-Ausbruch: „Im Inneren der Erinnerung“ (so das Stichwort in Brass’ Formskizze) schlagen sämtliche Wogen der Vergangenheit und Gegenwart übereinander.

Dies auch noch durch Wasserprojektionen zu illustrieren, wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Wie überhaupt Regisseur Christian Marten-Molnár dazu neigte, die angedeuteten Konflikte und Beziehungen bisweilen etwas zu handfest an die Oberfläche zu holen. Die Gänge und Positionen im Raum sagten da oft mehr aus.

Das Publikum im Schweren Reiter feierte Solisten und Instrumentalisten (neben Gunter Pretzel die großartigen Oliver Klenk, Joe Rappaport, Stephan Lanius, Kai Wangler und Fabian Strauß) genauso einhellig wie den Komponisten und das Produktionsteam.

Gut gealterter „Kopernikus“

Nicht minder enthusiastisch war tags zuvor die Reaktion auf das Geschenk ausgefallen, das die Münchner Hochschule für Musik und Theater der Biennale machte: Den Bogen zur Auftaktproduktion „Vivier“ schlagend, präsentierte sie in der Reaktorhalle mit „Kopernikus“ (1979) Claude Viviers einziges vollendetes Bühnenwerk.

Dieses „Opernritual des Todes“ („opéra-rituel de mort“ lautet Viviers Untertitel) ist in seinem Transzendenzanspruch kaum inszenierbar. Auch Regisseurin Waltraud Lehner braucht eine Weile, bis sich nach aktionistischem Beginn jene Ruhe und Gelassenheit einstellt, in der man sich als Zuschauer auf die spirituelle Reise Agnis und seine Begegnungen mit Kopernikus, Lewis Carroll, Merlin, Mozart und anderen, von Vivier als „mythische Wesen“ gedeuteten Figuren einlassen kann.

Getragen wurde der Abend von einer großartigen Leistung des bis auf eine Ausnahme (Jens Müller) aus Studierenden gebildeten Ensembles: Danae Kontora, Andromahi Raptis, Luise Höcker, Manuel Adt und Alexander Kiechle erfüllten Viviers ganz eigene melodische Sprache mit Leben und waren auch den heiklen Zusammenklängen gut gewachsen. Aus dem Graben agierte hochkompetent das ensemble oktopus der Hochschule unter der Leitung Konstantia Gourzis.

Viviers Fähigkeit, Instrumente solistisch auch in konventioneller Spieltechnik so klingen zu lassen, als hörte man sie zum ersten Mal, machten Sarah Mücke (Violine), Myriam Ströher (Oboe), Markus Rendl, Dora Gergely, Felicia Bulenda (Klarinetten), Yael Gat (Trompete), Michael Bigelmaier (Posaune) und Philipp Sammet (Schlagzeug) auf faszinierende Weise erfahrbar. Claude Viviers Musik ist, so die Erkenntnis des Abends, ausgesprochen gut gealtert.

Weitere Aufführungen „Sommertag“: 13., 14. Mai
Weitere Aufführung „Kopernikus“: 14. Mai

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