Ob die Wurzeln des Jazz nun in Amerika, Europa oder Afrika liegen, darüber wird debattiert, seit diese Musik vor rund hundert Jahren das Licht der Welt erblickte. Dass Nils Landgren, der Leiter des Jazzfests Berlin, das Festival in diesem Jahr unter das Motto „Made in Europe“ stellte, kann man deshalb auch als Statement in dieser Diskussion werten – gerichtet gegen jene Fraktion um den Trompeter Wynton Marsalis, die meint, nur afroamerikanisches Blut garantiere echtes Jazz-Feeling.
Was ist nun heute das Besondere am europäischen Jazz? Allein an musikalischen Kriterien lässt es sich nicht festmachten – das zeigt die außerordentliche Vielfalt der Festival-Teilnehmer. Gemeinsam ist ihnen jedoch eine gelassene, oftmals ironische Distanz zu eingefahrenen Jazz-Routinen, zu Blues-Gefühl und Fußwipp-Swing.
Viele europäische Musiker scheren sich nicht um traditionelle Jazz-Charakeristika, sondern arbeiten daran, einer universalen Sprache der Musik neue Vokabeln hinzuzufügen. Das gelingt zum Beispiel dem Pianisten Joachim Kühn, der in die Sahara reiste und dort mit Berber-Musikern jammte. Resultat ist das Trio-Projekt „Out of the Desert“, das Kühn gemeinsam mit dem marokkanischen Multi-Instrumentalisten Majid Bekkas und dem spanischen Schlagzeuger Ramon Lopez in Berlin präsentierte – keine Umarmung der Kulturen, sondern eine spannungsreiche Aneignung des Fremden mittels dichter Gruppenimprovisation.
Die Bigband ist der altehrwürdige Pottwal des Jazz. Eine ironische Brechung dieses Formats nimmt die Jazz Bigband Graz vor, die ihre Bläserriege durch Zither, Drehleier, Cello und das geisterhaft klingende Theremin erweitert. Über einer elektronisch verzerrten Klangwolke aus Jazz, Minimal Music, Sphärenmusik und Geräuschen sang Horst-Michael Schaffer inbrünstig Texte von Shakespeare, Neruda oder Simon & Garfunkel zu schlagerhaft simplen Melodien. Die Bühnenrückwand wurde mit verträumten visuellen Projektionen beleuchtet.
Die wohl größtmögliche Jazzferne erlebte man bei dem international besetzten Berliner Ensemble zeitkratzer, das Jazziges nur als Farbtupfer in eine Palette aus Neuer und Minimal Musik, experimentellem Rock und Noise setzt. Ihre Musik ist ein suggestiver Klangfluss, dessen Farbe, Geschwindigkeit, Breite und Dickflüssigkeit sich fortwährend wandeln. Mal rann er in fein verästelten Armen dahin. Dann wieder staute er sich auf zu einem dicken Klangbrei, einem tosenden Lärm wie in einer Maschinenhalle, der die Eingeweide und die Luft im Saal zum Wabern brachte.
An fünf Tagen fanden 21 Konzerte mit insgesamt 250 Musikern statt. Nils Landgren hat sich mit „Europa“ für ein spannendes, wenn auch wirtschaftlich riskantes Motto entschieden. Denn die Veteranen und Kassenschlager des Jazz – ob Herbie Hancock oder Sonny Rollins – die sonst die Standbeine der großen europäischen Festivals bilden, sind nach wie vor in der amerikanischen Szene beheimatet.