So mancher Festivalbesucher hätte sich wohl gern gevierteilt in dieser ersten Februarwoche, um dem übergroßen Angebot von Club Transmediale 2011 gerecht zu werden. In der Tat, man konnte sich leicht verlieren in der stadtweiten Festival-Diaspora wie in der überwältigenden Diversität der Veranstaltungen bestehend aus audiovisuellen Performances, Installationen, Ausstellungen, Symposien, Konzerten, Filmvorführungen, Experimental-Labors und Club-Programm.
Auch wenn man nicht alles unter einen Hut bringen konnte, eines steht fest: es wurde viel experimentiert, kombiniert, debattiert, exponiert, viel getanzt und gefeiert – und die Sinne erbarmungslos von Reizen überflutet. Während sich ein Teil des Publikums vorwiegend am illustren line-up heißbegehrter DJs ergötzte, widmete sich ein anderer Teil (bzw. eine Schnittmenge mit übermenschlicher Kondition) in einem mehrtägigen Symposium mit einem nicht minder illustren line-up von Wissenschaftlern, Künstlern, Medienexperten und Kuratoren der diesjährigen Kernfrage: Was ist live?
Kann man darüber mehrere Tage lang debattieren? Durchaus. Man hätte das Thema auch noch tagelang weitersezieren können und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft noch tun, denn wie sich herausstellte, definiert sich der Begriff „liveness” auf einer medialen Ebene mit der technologischen Entwicklungstendenz laufend neu. Dies trat besonders klar zutage beim Symposium „Digital Liveness – Realtime, Desire and Sociability”, einer der wichtigsten Schnittstellen von CTM11 und dem zeitgleich stattfindenden Partnerfestival transmediale 11. Wie Philip Auslander, Wissenschaftler und Autor des Buches „Liveness – Performance in a Mediatized Culture”, in einer Hauptansprache an Publikum beider Festivals darlegte, existiert der Begriff „live” in seiner historischen Genesis betrachtet erst seit es auch etwas anderes als live gibt: die Aufnahme. Damit, möchte man meinen, ist das Thema erledigt. Live vs. Konserve – Voraussetzung ist lediglich die räumliche und zeitliche Ko-Präsenz von Künstler und Publikum. Doch schon in den 1930er Jahren entstanden widersprüchliche Begriffe wie „Live-Aufnahme” oder „Live-Übertragung”, die fraglos in den täglichen Sprachgebrauch aufgenommen wurden. Warum? Weil sich die Definitionskriterien an der Wahrnehmung zu orientieren scheinen. Was als live empfunden wird, wird auch als solches bezeichnet. Dies gilt heute besonders für die mediatisierte Welt, die mittels Internets räumliche Distanz vollkommen wegsuggerieren kann, so beispielsweise in Chat Rooms oder dergleichen.
Geteilt wurde diese These auch von einigen Experten, die sich mit der Frage im musikalisch-künstlerischen Kontext beschäftigten. So legte auch Experimentalfilmemacher Malcom LeGriece nahe, dass die Definition von live wirklich keine Rolle spiele, genauso wenig wie die Definition von real im Gegensatz zu virtuell, denn – analog zum Fall „live” – sei auch real nur das, was als real empfunden werde. Bei der Frage, was nun diese Wahrnehmung auslöse, war man sich weitgehend einig, dass der Eindruck einer menschlichen Unmittelbarkeit und eines Nicht-Wissens, was im nächsten Moment geschehen wird – weder seitens des Zuschauers noch des Künstlers – entscheidend ist. In einem traditionellen instrumentalen Darbietungskontext ist das leicht nachvollziehbar. Doch in vielen Fälle mediatisierter technologisierter Machwerke, wie sie im Rahmen des Symposiums vorgestellt wurden, musste das live-Empfinden jeweils aufs Neue evaluiert werden. Dabei zeigte sich, dass nicht höhere Raffinesse und Komplexität der Technologie ausschlaggebend ist, sondern der Grad des persönlichen Angesprochenseins und der Anteilnahme des Zuschauers, egal welches Medium dabei im Spiel ist. Diese Tendenz hat in jüngster Zeit zu einer Konzentration auf die Interaktivität geführt. So gibt es beispielsweise Club Events, bei denen das Publikum via Smartphone Application auf den Verlauf von Musik und Visuals Einfluss nimmt. Wie divers das Einsatzspektrum eines Mediums ist, zeigt aber erst der Fall eines ungewöhnlichen Kunstprojekts mit politisch aktivistischem Touch: umgebaute alte Mobiltelefone wurden illegal im Seitenbühnenbereich des Zürcher Opernhauses installiert und als telefonische Wanzen eingesetzt, von wo aus regelmäßig Festnetze im Zürcher Raum angerufen werden, um einem breiteren Publikum ein live-Opernerlebnis zu bescheren…
Als förderlich für die Perspektive erwiesen sich die Veranstaltungen, die sich mit Wurzeln und Anfängen einer Bewegung befassten, die all das, was heute bei CTM zu erleben ist, ins Rollen gebracht hat. So zum Beispiel das Eröffnungskonzert mit Eherngast Morton Subotnick, Erfinder des Buchla Synthesizers und Pionier der elektronischen Musik, der in Kollaboration mit dem Berliner Videokünstler Lillevan sein damals großes Erfolgswerk „Silver Apples of the Moon” in weiterverarbeiteter Form in einer live performance präsentierte. Lillevans differenzierte Ästhetik und musikalische Bildsprache war der elektronischen Musik Subotnicks dabei weit mehr als Illustration und spiegelte einen Fall von geglücktem Zusammenspiel aus Komposition und Visualisierung mit intrikatem Bezug. Bei aller Angebotsfülle von audiovisuellen Kunstwerken: diese Schlüssigkeit war nicht überall anzutreffen, stand sie in diesem Fall auch etwas abseits, gut getarnt durch einen Retro-Anstrich, dafür unbehelligt von der grassierenden Tyrannei des ewig Neuen – oder vielmehr des vermeintlich Neuen – der oft Sinn und Aussage zum Opfer fallen und die leider nicht selten zu einer Reduktion auf ein technisches Zurschaustellen führt. Eine posthume Ehrung erfuhr der Komponist und Erfinder Raymond Scott, an dessen Pionierswerk ein sehr intimer Portrait-Film seines Sohnes erinnerte, wie auch die kürzlich verstorbene Komponistin und einstige Stockhausenschülerin Maryanne Amacher, die in ihrem damals visionären Werk „Plaything” eindrücklich präsent war.
Eine würdige Klammer um das Thema „liveness” setzte CTM11 schließlich mit der Ehrung des legendären Free Jazz Saxophonisten Peter Brötzmann zu seinem 70. Geburtstag in einem fulminanten Abschlusskonzert seiner Band Full Blast mit dem Bassisten Marino Pliakas, dem Schlagzeuger Michael Wertmüller sowie „special guest” Mats Gustafson (Bariton-Saxophon). Wer sich noch einmal sämtliche Qualitäten der live Musik in ihrer extremsten Form, der Improvisation, vergegenwärtigen wollte, war an diesem Abend trefflich bedient. Bewegend war vor allem, wie sich, bei unabläßiger Intensität und virtuoser Wucht, Identität und Authentizität eines jeden Spielers inmitten des kollektiven Kraftakts aufs Intimste exponierte – unmittelbarer geht es nicht.
Jenseits der Frage nach dem live oder nicht-live, bei einigen Veranstaltungen schaute man mit etwas Sorge auf die Musik selber. In der Konvergenzzone zwischen Musik, Kunst und Medien, auf die CTM ihren Fokus setzt, weisen die mediale und auch die künstlerische Komponente tendenziell eine steile Entwicklungskurve auf, während die reine Musik bei dieser Konstellation in ihrer Entwicklung stagniert. Es wird zwar viel mit und am Klang gearbeitet, doch sind es kaum musikalisch-konzeptuelle Ideen, die für die Kunstwerke tonangebend sind. Oft ist die Musik sogar ein Zufallsprodukt, das am Ende der Gesamtfunktion einer medialen oder künstlerischen Idee emergiert, was vor allem bei interaktiven Projekten oft zu beobachten ist. Sicher ist es nicht conditio sine qua non, dass die Musik jedes Konzept bestimmt, doch ist die zu beobachtende Tendenz, der Musik eine Begleit- oder Zufallsfunktion zuzuweisen, nicht zuträglich für das langfristige produktive Zusammenspiel der drei Sparten. Immerhin bezeichnet sich CTM als „Festival for Adventurous Music and Related Visual Arts”. Das willkürliche Experimentieren mit Musik, eine besondere Gefahr des Interaktiven, deckt diesen Anspruch nicht ab.
Subotnick behauptet, dass ein anderer den entscheidenden Schritt unternommen hätte, wenn er ihn nicht getan hätte. Das mag sein. Aufschlussreich an seiner Geschichte war vor allem die Bestandaufnahme seiner Zeit: technische Mittel standen keine zur Verfügung. Es gab sie noch gar nicht, und was es gab, hätte sich nicht einmal Gott leisten können. So schien es zumindest. Es gab nur die Inspiration, die von Schönberg und Webern ausging, die hoffnungsvoll in eine neue Richtung wies, ansonsten stand man vor einem scheinbar unüberwindbaren Hindernis und musste sich das Werkzeug zur Verwirklichung neuer Ideen irgendwie selber entwickeln. Genau dieses Bezwingen des Hindernisses hat ihn aufs nächste Level befördert und ihm die Bezeichnung Pionier eingebracht – wenn auch erst viel später. Bedenkt man, dass das Hindernis den Pionier macht, muss man zugeben, dass es heute schwer ist, Pionierarbeit zu leisten, denn die technischen Mittel sind vorhanden und mehr oder weniger allen zugänglich. Aus dieser Ecke wartet man also vergeblich auf etwas Neues, auch wenn einiges einen „neuen” Eindruck macht. Unsere Hindernisse liegen offensichtlich nicht mehr im Medium. Das heißt: am Medium können wir nicht mehr wachsen und sollten daraus unsere Schlüsse ziehen.
Gewiss, Technologie ist gut, eindrücklich und integraler Bestandteil unserer Kultur, doch lässt man sie vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck avancieren, versagt man dem Publikum eine reelle Chance auf intensive Unmittelbarkeitserlebnisse und der Musik einen Raum zur Entwicklung. Es will so verblüffend viel kommuniziert werden auf immer neueren, multiplen Ebenen, noch direkter, noch unbegrenzter. Aber was genau da eigentlich kommuniziert wird – es bleibt oft ein Rätsel. Ist der Inhalt der Kommunikation das neue Hindernis und also die neue Chance? Vielleicht erfahren wir es nächstes Jahr, bei CTM12.