Nach Fatih Akins „Gegen die Wand“ nun also eine weitere Filmveroperung. Ludger Vollmer hat im Auftrag des Regensburger Theaters zusammen mit Bettina Erasmy „Lola rennt“, Tom Tykwers Erfolgsfilm von 1998, in eine Oper verwandelt. Juan Martin Koch hat die vom Premierenpublikum mit heftigem Beifall aufgenommene Uraufführung verfolgt:
Einen Film wollte er machen, bei dem schon die Musik allein die passenden Bilder und schon die Bilder allein die passende Musik im Kopf erzeugen könnten. Tom Tykwer hat das im Zusammenhang mit seinem Film „Lola rennt“ zu Protokoll gegeben, und er wusste, wovon er sprach. Schließlich ist er nicht nur Regisseur, sondern bei den meisten seiner Produktionen – gemeinsam mit Johnny Klimek und Reinhold Heil – auch für die Musik mitverantwortlich.
Dass ihm diese Korrelation bei seinem dritten Film so elektrisierend gut gelungen ist, war die eine Herausforderung, der sich Komponist Ludger Vollmer und Librettistin Bettina Erasmy bei ihrer Opernfassung zu stellen hatten. Die andere lag in der frech alle Genrekonventionen beiseite wischenden Erzählweise begründet. Denn Tykwer lässt (in Anlehnung an Krzysztof KieÅ›lowskis „Der Zufall möglicherweise“ von 1981/87) die Handlung um Lola, die ihrem in der Klemme steckenden Freund Manni in 20 Minuten 100.000 Mark besorgen muss, in drei verschiedenen Versionen ablaufen. Kleine Zufälle oder spontane Entscheidungen sorgen dafür, dass der Fortgang in eine jeweils andere Richtung abbiegt und so auf ein jeweils neues Ende zusteuert.
Erasmy und Vollmer haben diese Struktur im Prinzip beibehalten. Das Libretto bezieht sich kürzend und variierend auf das Drehbuch, hinzu kommt der an Kulminationspunkten als Lolas innere Stimme sich einmischende Chorpart. Dass Tykwers schnelle, punktgenaue Wortwechsel im Operntonfall nicht mehr gar so prägnant daherkommen, verwundert nicht weiter, ganz abgesehen davon, dass man sie gezwungenermaßen mehr mitliest als mithört.
Diesem retardierenden Moment durch Energieschübe aus dem Orchestergraben beizukommen, darin hat nun Vollmer seine Hauptaufgabe gesehen. Dort haben sich vier Schlagwerker breit gemacht: Die Woodblocks geben den Puls der ablaufenden Zeit vor, Offbeats und andere bewährte Hausmittel aus dem Rhythmusbaukasten treiben Lola auf ihren drei Runden vor sich her. In den besseren Momenten bewegt sich das mit emsig um sich kreisenden, dem amerikanischen Minimalismus abgelauschten Streicherfiguren – Synkopierungen und verschobene Akzente inklusive – und unter Beimischung von Holz und stimmungsförderndem Blech im Bereich mittlerer Filmmusik. Die Singstimmen werden, sobald sie sich zu Melodiebögen aufschwingen, von Streichern gedoppelt, doch auch sie sind bisweilen in die Rhythmusüberlagerungen einbezogen.
Ruhepunkte, die hin und wieder auch Schlaglichter auf die Nebenfiguren werfen, heben sich von diesem wiederkehrenden Schema ab: etwa die Tuba-Grundierung für die kleinen Monologe des Bankaufpassers Schuster (mit statuarischer Stimmkraft Jongmin Yoon), klezmerartige Klarinetteneinwürfe für den offenbar an Tevjes „Wenn ich einmal reich wär“ denkenden Penner (in Spiellaune: Adam Kruzel) oder jene den etwas süßlichen Trauerhymnus des Chores nachzeichnende Flötenmelodie für die Zäsur, in der Manni nach der zweiten Runde mit Lola über seinen Tod sinniert. Anklänge an den Rhythmus des James-Bond-Themas, an die grimmigen Scherzi eines Schostakowitsch oder – Vollmer und Erasmy muten dem Stoff am Ende mit der Beschwörung der Ewigkeit im Augenblick eine gehörige Portion musiktheatraler Überhöhung zu – an Mahlers „Lied von der Erde“: Das sind weitere Ingredienzien dieser nicht von lästigen Selbstzweifeln oder Grundsatzfragen zum heutigen Komponieren angekränkelten Partitur.
Zum erfolgreichen Casino-Besuch Lolas liefert Vollmer dann noch eine routinierte Menuett-Persiflage – in Schirin Khodadadians Inszenierung einer der seltenen überraschenden, filmartigen Schnitte. Ansonsten beschränkt sich die Regisseurin darauf, ihr Personal vor, hinter oder auf den mittels Drehbühne rotierenden Stahlregalen zu gruppieren. Leuchtschriftquader zeigen an, welcher Ort des Geschehens zu imaginieren ist; der reale Theaterraum, aus dem Lola und Manni zwischenzeitlich einen Ausweg suchen, findet im Rückraum der Bühne eine künstliche Fortsetzung: eine Kreisbewegung also auch hier.
Für die Protagonistin, die das Karussell für eine zweite Runde erst einmal selbst anschieben muss, bedeutet der Bühnenaufbau Caroline Mittlers vor allem eines: Lola klettert. Vera Semieniuk ist damit und mit dem von ihr souverän gemeisterten Gesangspart weitgehend beschäftigt. Möglicherweise dem grippal durcheinandergewirbelten Probenplan geschuldet, zeugt auch das Spiel von Seymour Karimov als Manni (Kleinganove mit großer Stimme), Mario Klein als Vater (auch vokal eine Bank) oder von Aurora Perry als dessen mit Bravour hysterische Koloraturen schleudernde Geliebte Jutta nicht unbedingt von intensiver darstellerischer Detailarbeit.
Von Vollmer ab und zu mit einem süffigen Spannungsklang bedacht, sorgt der Chor (einstudiert von Alistair Lilley) für rhythmisch skandierte Botschaften und beherzte Pathos-Aufschwünge im Grenzgebiet von Oper und Musical. Arne Willimczik koordiniert das ordentlich Dampf machende Philharmonische Orchester mit Geschick, die heikle rhythmische Verzahnung mit der Bühne gelingt weitgehend.
Das Nachdenken über den Faktor Zeit sei der Ausgangspunkt dafür gewesen, dass im Gespräch mit Ludger Vollmer die Wahl auf „Lola rennt“ gefallen sei, hatte Regensburgs Intendant Jens Neundorff von Enzberg im Vorfeld immer wieder betont. So ganz wird man freilich den Verdacht nicht los, dass auch das Schielen auf überregionales Interesse und eine sonst weniger opernaffine Zielgruppe dabei eine gewisse Rolle gespielt hat. Das ist per se nicht verwerflich und der beträchtliche Premierenapplaus mag dem Intendanten Recht geben, etwas mehr Substanz darf er dem Publikum bei der nächsten Uraufführung aber gern zumuten. Die Kooperation mit der Münchner Musiktheater-Biennale in der kommenden Spielzeit kommt da sehr gelegen.