Hauptbild
Musik auf Abstand. Das Arditti-Quartett in Darmstadt 2018. Foto: Hufner
Musik auf Abstand. Das Arditti-Quartett in Darmstadt 2018. Foto: Hufner
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Musik auf Abstand – Spielräume zwischen 1,50 und Hörweite – Ein Essay von Bernhard König und Alon Wallach

Publikationsdatum
Body

Alles ist anders – dazu gehört auch, dass das Große und Spektakuläre auf einen Schlag als „verzichtbar“ gilt, während die kleine Geste, das Alltägliche, die Arbeit der Supermarktverkäuferin oder des Altenpflegers wertgeschätzt wird wie nie. Auch in der Kultur findet eine solche Umwertung statt. Dass es dieses Jahr eigentlich ein Beethovenjubiläum, ein Montreux Jazz Festival, einen Eurovision Song Contest hätte geben sollen, ist mit einer kurzen Meldung abgehakt. Stattdessen erhalten private Kleinst-Initiativen – das Singen vom Balkon oder vor dem Altenheim, der Geigenunterricht per Livestream – plötzlich den Rang einer ARD-Brennpunkt-Nachricht.

Die epidemiologischen Gründe für die große Generalpause im Kultur- und Veranstaltungsbetrieb sind allseits bekannt. Aber auch für die Aufwertung des privaten Musizierens gibt es gute Gründe. Das flächendeckende Kontaktverbot und der abrupte Verlust von Tagesstrukturen, Routinen und beruflichen Sinngebungen erzeugen Krisen und Belastungen zuhauf. Während die einen am Limit ihrer Kräfte sind, sehen sich andere plötzlich mit quälender Einsamkeit konfrontiert. Covid-19 führt uns vor Augen und Ohren, in welchem Maße wir soziale Wesen sind und wie lebenswichtig eine ausgewogene Mischung aus Nähe und Distanz, Begegnung und Rückzug, Struktur und Perspektive ist. Wir alle hungern nach Resonanz. Und genau an dieser Stelle kommt Musik ins Spiel.

Warum wir gerade jetzt Musik brauchen

Das Coronavirus verbreitet sich nicht auf auditivem Weg. Musikmachen und Musikhören beinhalten für sich genommen genauso wenig Infektionsrisiko, wie ein verantwortungsbewusstes Einkaufen, Spazierengehen oder Joggen. Zu einem Gesundheitsrisiko wären sie nur dann geworden, wenn man an den hergebrachten Veranstaltungs- und Rezeptionsformen festgehalten hätte und sich dadurch zu nahe gekommen wäre.

Was das Musizieren aber von anderen, weiterhin erlaubten Einzelaktivitäten unterscheidet, sind drei besondere Wesenmerkmale, die gerade jetzt besonders wertvoll werden könnten.

Erstens: Musik ermöglicht eine Form der zwischenmenschlichen Resonanz, die räumliche Distanz mühelos überbrückt, ohne an Intensität zu verlieren. Während andere Formen der direkten Interaktion und Resonanz von Mensch zu Mensch zwingend der körperlichen Nähe bedürfen – Berührung, Tanz, Sex, das persönliche Gespräch – benötigt Musik, um sich entfalten zu können, sogar einen gewissen Mindestabstand. Räumliche Distanz wird deshalb beim Musizieren nicht als einschränkend und defizitär wahrgenommen.

Zweitens: In Musik sind emotionale und physische Erinnerungen gespeichert. Dazu zählen insbesondere auch die Erinnerungen an „bessere Zeiten“, die durch Musik auf eine immaterielle, aber zugleich sehr unmittelbare Weise heraufbeschworen und vergegenwärtigt werden. Musik vermag auf diese Weise Menschen zu bewegen, ohne dass diese sich zwingend bewegen müssen. Demenzkranke blühen auf und singen mit; körperlich stark eingeschränkte Menschen beginnen „innerlich“ mitzutanzen, wenn sie die Musik ihrer Jugend hören. Auf kognitiver Ebene wissen wir alle, dass die Krise irgendwann vorbei sein wird. Musik lässt es uns unmittelbar spüren und erinnert uns daran, wie diese bessere Zukunft sich anfühlen wird. Das macht sie zu einem potentiellen Hoffnungsmedium.

Drittens: Musik generiert Aufmerksamkeit, inspiriert zur Nachahmung, lädt zum Mitmachen ein. Dieser einladende Effekt bezieht sich nicht nur auf den Akt des Musizierens, sondern auch auf die zugrundeliegende Haltung, die sich auf affektive Weise zusammen mit den Tönen vermittelt. Als die ersten Bilder vom Balkonsingen in Italien um die Welt gingen, haben sie nicht nur diese konkrete Form des Musizierens bekannt gemacht – sie haben auch auf prägnante Weise gezeigt, dass es möglich ist, der Hilflosigkeit und Isolation eine neue Form des Miteinanders, der „Mündigkeit“ und Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen.

Viele Musikerinnen und Musiker haben sich derzeit mit zwei bedrückenden Umständen auseinanderzusetzen. Da ist zum einen das Bangen ums wirtschaftliche Überleben, zum anderen aber auch das jähe Ausbremsen von fast allem, was das Selbstverständnis und den Lebensalltag einer Musiker*in ausmacht – einschließlich der unterschwelligen Kränkung, plötzlich scheinbar nicht mehr „gebraucht zu werden“. Doch wenn man den kulturellen Shutdown und die hohe mediale Wertschätzung der genannten Privatinitiativen als zwei Seiten der gleichen Medaille betrachtet, kann man auch zu einem ganz anderen Schluss kommen: Wir werden derzeit viel mehr gebraucht als sonst – aber eben auf eine gänzlich andere Weise. Ja, unsere Veranstaltungen sind tatsächlich nicht „systemrelevant“ und würden ein unverantwortbares Infektionsrisiko bedeutet. Aber zugleich sind wir als Musiker*innen mit einigen der wichtigsten, herausforderndsten und faszinierendsten Aufgaben konfrontiert, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten für uns bereitgehalten hat.

Viele haben dies erkannt und streamen musikalische Gesten der Zusammengehörigkeit, des Trostes und der Solidarität. Die Unverzichtbarkeit des Digitalen wird dabei genauso deutlich spürbar wie die Unverzichtbarkeit der direkten Begegnung von Mensch zu Mensch: Unfreiwillig zum kollektiven „Analog-Fasten“ gezwungen, spüren viele von uns, wie wenig Videokonferenzen und Netflix auf Dauer sozial und zwischenmenschlich satt machen. Dies wirft die Frage auf, ob und wie das überbrückende Potential der Musik auch im analogen Hier und Jetzt genutzt werden kann.

Entscheidend bei jeglichem öffentlichen Musizieren wird in den nächsten Wochen sein, dass es sich formal und dramaturgisch dem jeweiligen Stand der gesundheitlich gebotenen und politisch vorgegebenen Kontaktregeln anpasst. Es darf also nicht darum gehen, den gesundheitlich gebotenen Abstand und die vorgeschriebenen Regeln zu unterlaufen – wohl aber darum, in aller Behutsamkeit ihre Spielräume auszuloten.

Immer wieder hört und liest man dieser Tage von einzelnen Privatinitiativen, die genau dies versuchen. Ein Pianist, der mit einem Rollklavier durch die Straßen zieht. Schausteller, die ihre Jahrmarktsorgel vor einem Altenheim aufbauen. DJs, die ihr Pult auf das Dach ihres Wohnhauses verlegen. Nimmt man zusätzlich noch die vielfältigen Formen des Balkonsingens und -klatschens samt ihrer virtuellen Verbreitung hinzu, dann dürfte die Einschätzung nicht übertrieben sein, dass wir gegenwärtig in Echtzeit das Entstehen einer neuen Volksmusikkultur erleben, in der sich verhinderte physische Begegnung, Lebenshunger und die digitale Verbreitung von kleinen, Nähe stiftenden Aktionen zu etwas aufregend Neuem verbinden.

Warum also nicht auch als Profimusiker*in diese Entwicklung unterstützen und sich dem Umstand öffnen, dass wir unser dankbarstes und wichtigstes Publikum gegenwärtig nicht im Internet finden, sondern vor der eigenen Haustür, im eigenen Dorf oder Stadtviertel? Menschen wie uns gibt es momentan ja überall: An die eigene Wohnung gefesselt, ausgehungert nach echtem Leben und übersättigt von einem Übermaß an digitaler Kommunikation. Menschen, die an Isolation und Langeweile oder zu viel familiärer Enge leiden. Kinder, die ihre Freunde nicht treffen können. Erkrankte Senioren, die Angst vor einem einsamen Tod haben. Und wer nicht der Typ für Parkmusik oder Balkonsingen ist, für den oder die finden sich auch auf konzeptioneller, dramaturgischer, musikpädagogischer und kompositorischer Ebene drängende Fragen und Aufgaben zuhauf, in denen musikalische Expertise, Einfallsreichtum und exemplarische Anregungen gefragt sind.

Den Übergang in den Stillstand zu gestalten, war eine politische, logistische, mediale und polizeiliche Aufgabe. Den Stillstand selbst zu gestalten und erträglich zu machen ist zu großen Teilen auch eine kulturelle Aufgabe. Wie viel Verantwortung damit verknüpft sein kann und wie viele neue Betätigungsfelder schlagartig entstanden sind, in denen dringend neue kulturelle Konzepte gebraucht werden, möchten wir anhand zweier weit auseinanderliegender und besonders bedrückender Beispiele illustrieren.

Die Pädagogik-Professorin Sabine Andresen wies kürzlich darauf hin, dass viele Kinder und Jugendliche derzeit „nirgendwo hinkönnen“. Für manche von ihnen ist „ihr Zuhause kein sicherer Ort“ – und erst recht keiner, an dem sie in Ruhe lernen, spielen, Geborgenheit finden können. Im Park die eigene Peergroup zu treffen, muss nicht immer ein Ausdruck von Ignoranz und Verantwortungslosigkeit sein – es kann auch schlicht die einzige Zuflucht vor einer unerträglichen und konfliktgeladenen Enge oder gar vor innerfamiliärer Gewalt sein. Wie können wir hier unter den Bedingungen der Pandemie möglichst bald wieder die bitter notwendigen „Spielräume“ im mehrfachen Sinn des Wortes schaffen? Warum nicht in Parks und großen Hallen wenigstens für Kinder aus sozialen Brennpunkten betreute Bewegungs- und Musikspiele mit zwei Meter Mindestabstand anbieten?

Gleichzeitig wächst zur Zeit die Zahl der Beerdigungen, die aus Gründen der Infektionsvermeidung weitestgehend ohne Trauergemeinde stattfinden müssen. Es sterben viele dieser Tage und die Abschiede finden ohne tröstende Umarmungen, ohne Kaffeetrinken unter Freunden und Verwandtschaft statt: Ein besonders bitterer und grausamer Aspekt der Corona-Krise. Musik könnte ein wichtiges Element sein, um wenigstens die räumliche Distanz zwischen Grablegung und Trauernden zu überbrücken und ein wenig Erinnerung zum Klingen zu bringen. Dafür bräuchte es Profis, die in der Lage sind, biographisches Material in eine situationsbezogene und angemessene musikalische Form zu bringen.

Warum wir jetzt eine radikal andere Musik brauchen

Mit Musik auf ein aktuelles Themen Bezug zu nehmen – das bedeutet in der Regel: Sich zu überlegen, wie diese Musik klingen kann, wie eine bestimmte Botschaft vertont und transportiert werden kann, wie vordergründig oder hintergründig der Gegenwartsbezug aufgegriffen und in Texte und Töne übersetzt wird. Dies alles ist im Kontext von Corona zweitrangig.

Stattdessen geht es momentan darum, Kontaktverbot und medizinische Abstandsregeln als gegebene Notwendigkeit zu akzeptieren, als Herausforderung und Gestaltungsaufgabe ernst zu nehmen und ihre allmähliche Lockerung konstruktiv zu begleiten. Viele fragen sich gegenwärtig: „Wie lässt sich mein künstlerisches oder pädagogisches Angebot mit möglichst wenig Substanzverlust ins Internet transferieren?“ Doch mindestens ebenso spannend könnten Frage wie diese sein: Welche neuen Formen sind nötig, um unter radikal veränderten Bedingungen ein Maximum an musikalischer Resonanz und Verschönerung zu ermöglichen? Wie können wir uns dabei dramaturgisch an den jeweiligen Ist-Stand des medizinisch Notwendigen anschmiegen? Und wie kann Musik in der kommenden Phase einer schrittweisen Rückkehr in den Normalbetrieb zu einer aktiv gestaltenden und unterstützenden Kraft werden?

Dabei rücken drei Elemente in den Vordergrund, die in der Musik zwar seit jeher eine zentrale Rolle spielen, die sich aber in unserem Musikleben in einem solchen Maße standardisiert und ritualisiert haben, dass sie nur selten als zu gestaltende Parameter wahrgenommen werden: Raum, Zeit und Öffentlichkeit.

Musikalische Räume zu gestalten bedeutet gegenwärtig: Abstand halten und mit musikalischen Mitteln überbrücken – und zugleich alle künstlerischen, dramaturgischen und logistischen Bemühungen darauf ausrichten, dass auch das Publikum untereinander Abstand hält. Unsere akustisch und veranstaltungstechnisch optimierten Konzertsäle fallen damit, zumindest in ihrer standardisierten Nutzungsweise, bis auf weiteres aus. Im virtuellen Raum des Internets werden die Sicherheitsvorgaben gewissermaßen „übererfüllt“: Die Fähigkeit der Musik, räumliche Distanzen aus eigener Kraft zu überbrücken, wird ins Unendliche ausgeweitet, gleichzeitig geht aber ein großes Stück Nähe und Unmittelbarkeit verloren. Relativ wenig hingegen wird bislang über den infektionssicheren analogen Raum zwischen zwei Metern Abstand und Hörweite nachgedacht.

Was es derzeit bedeuten kann, Zeit zu gestalten, kann man von der Virologie lernen: Es geht darum, Prozesse zu verlangsamen. Irgendwann wird die Kontaktsperre gelockert werden, wird ein gesellschaftliches Leben wieder anlaufen können. Doch gerade angesichts des gegenwärtig sehr „ausgehungerten“ Publikums steht zu befürchten, dass verfrühte, öffentlich angekündigte Konzerte unverantwortbare Menschenansammlungen verursachen würden. Wer schon einmal gefastet hat, kennt vielleicht den berühmten Satz von George Bernard Shaw: „Jeder Narr kann fasten, aber nur ein Weiser kann es ordentlich brechen“. Ein Hochfahren des Kulturbetriebs von Null auf Hundert wäre eine extrem ungesunde Art des „kulturellen Fastenbrechens“, die in Einzelfällen tödlich werden könnte.

Es wird deshalb abgestufte Übergänge zwischen totalem Veranstaltungsverbot und regulärem Spielbetrieb geben müssen, die wir bereits jetzt in interdisziplinären Teams planen und vorbereiten sollten. Neben der Medizin kann der Kulturbetrieb hier viel vom Einzelhandel lernen, der ja in den zurückliegenden Wochen in genau diesen Fragen ein reichhaltiges Erfahrungswissen gesammelt hat. Ein fein austarierter Umgang mit den beiden Gestaltungsparametern „Raum“ und „Zeit“ kann zu passgenauen dramaturgischen Modellen führen. So können beispielweise Veranstaltungsorte, die „auf Lücke“ bestuhlt oder als Parcours begehbar sind, über viele Stunden hinweg durchgehend geöffnet sein und von wechselnden Ensembles bespielt werden, so dass bei strengem Ein- und Auslass ein fließendes Kommen und Gehen kleiner Grüppchen möglich wird.

Was es bedeutet, diesseits des Digitalen auf verantwortungsvolle Weise mit Öffentlichkeit umzugehen, ist in diesem letzten Beispiel bereits angelegt: Wir müssen uns bis auf weiteres von jeglichem expansiven Denken verabschieden. Es kann und darf nicht um maximale Reichweite und um ein möglichst großes Publikum gehen, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Jede Form von Öffentlichkeitsarbeit, die zu unkontrollierten Menschenaufläufen und gezielter Publikumsmobilität führen kann, muss bis auf weiteres vermieden werden. Stattdessen müssen Dramaturgie und Planung darauf ausgerichtet sein, nur die Menschen eines vorab genau definierten Nahbereiches zu erreichen. In näherer Zukunft werden das wohl maximal Zufallspassanten, Nachbar*innen oder die Bewohner*innen einer Sozialeinrichtung sein können. Irgendwann wird es auch wieder möglich werden, in enger Abstimmung mit den zuständigen Behörden Veranstaltungsformen zu entwickeln, die sich in einem etwas größeren Radius an die Bewohner*innen eines ganzen Dorfes oder Stadtviertels richten.

Auf den ersten Blick mag dieser Gedanke eines „möglichst kleinen“ Publikums völlig absurd wirken. Doch diese Absurdität ist nur ein Hinweis darauf, in welchem Maße unser institutionalisierter und professionalisierter Kulturbetrieb von expansivem Denken, maximaler Verfügbarkeit und hohen Reichweiten geprägt ist. Kultur in genau entgegengesetzte Richtung – also reduktiv statt expansiv – zu denken, kann Qualitäten zum Vorschein bringen, die im gewöhnlichen Kulturbetrieb normalerweise zu kurz kommen.

Warum wir nichts planen können – und genau dies planen sollten

Als „Datum der Entscheidung“ wird der 19. April derzeit zu einer kollektiven emotionalen Zäsur aufgeladen. Wir alle hoffen darauf, dass die derzeitige radikale Kontaktsperre spätestens an diesem Tag gelockert oder aufgehoben werden kann. Aber ein „von Null auf Hundert“ wird es kaum geben. Unserem wissenschaftlichen Berater, dem australischen Parasitologen Michael Wallach (Telefongespräch am 2. April 2020. Informationen zur Person: https://www.uts.edu.au/staff/michael.wallach) zufolge, ist die gegenwärtig wahrscheinlichste Variante, dass wir noch eine lange Phase der kleinen, schrittweisen Übergänge vor uns haben werden. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben wird sich noch viele Monate lang danach zu richten haben, ob flächendeckend und zuverlässig auf Corona getestet werden kann, wann es ein Medikament geben wird oder wann gar einen Impfstoff verfügbar sein wird.

Für den Kulturbetrieb bedeutet dies: Wir müssen lernen, in vorausschauenden und flexibel veränderbaren Optionen zu denken und gestaltende Mitverantwortung zu übernehmen. Um beim Beispiel 19. April zu bleiben: Es ist möglich, dass wir an diesem Tag Grund zur Freude haben werden. Genauso möglich ist es, dass unsere kollektive Zuversicht enttäuscht wird. Und egal ob wir uns freuen oder ob wir enttäuscht sein werden – wir alle werden dann eine schwere und herausfordernde Zeit hinter uns haben, in der wir vieles entbehren und unsere Lebenroutinen radikal verändern mussten: Eine gewaltige kollektive Leistung, die danach drängt, gewürdigt zu werden.

Dies alles wird nicht ohne Wirkung bleiben. Die Gefahr ist groß, dass diese Wirkung sich kontraproduktiv auswirkt und zu neuen Infektionswellen führt. Medizinisch kontraproduktiv wäre es zum Beispiel, wenn Millionen von Menschen sich um den 19. April herum erleichtert in die Arme fallen und unbedacht feiern würden. Sozial und gesundheitsprophylaktisch kontraproduktiv wäre es, wenn sie aus Frustration, Enttäuschung und weil sie es schlicht nicht mehr ertragen können, beginnen würden, eine weiterhin erforderliche, aber zunehmend unerträgliche Kontaktsperre zu unterlaufen.

Verantwortungsvoll gestaltete Musik im öffentlichen Raum kann bei der Gestaltung derartiger Übergänge eine wichtige Rolle spielen. Ob sie diese Rolle bereits am 19. April wird spielen dürfen, wissen wir gegenwärtig noch nicht. Aber es könnte lohnend sein, sich auf die Option vorzubereiten, dass dieser herbeigesehnte und beargwöhnte Tag zu einem Tag des öffentlichen Musizierens und gemeinsamen Singens im Hier und Jetzt werden könnte. Auch wenn es vielleicht dann doch nicht der 19. April sein wird – irgendwann wird der Tag kommen, an dem es angemessen, erlaubt und vielleicht ja sogar ein kleines Stückchen „systemrelevant“ sein wird, dass sich viele kleine, lokale, in aller gebotenen Verantwortung und unter allen notwendigen Sicherheitsvorkehrungen gestaltete Begegnungen zu einer großen, behutsamen Feier der Gemeinschaft und Solidarität, des Lebens und der Hoffnung verbinden.

Warum Musik gerade jetzt für alle da sein muss

Musik kann sowohl „inklusiv“ als auch „exklusiv“ sein. In der Regel ist sie beides zugleich. Sie macht Zugehörigkeit erlebbar und erzeugt Gemeinschaftsgefühl – sie kann aber auch das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und des Ausgeschlossenseins verstärken.

Sie wird damit zu einem Spiegelbild jener Ambivalenz aus Abschottung und Solidarität, aus weltweiter Verbundenheit und Rückzug ins Nationale, die gegenwärtig auf vielen Ebenen zu spüren ist. An dieser Stelle aber ist es nicht nur wichtig, wie man musiziert und singt, sondern auch, was man musiziert und singt. Mit kulturellen Mitteln die Rückkehr in eine Offene Gesellschaft zu unterstützen – dazu kann auch gehören, sowohl das kulturübergreifend Verbindende als auch das Vielfältige und Vielstimmige stark zu machen. Nicht nur mit Beethoven, sondern mit Liedern aus aller Welt gegen die Isolation anzusingen. Der Zwang zum kollektiven Daheimbleiben und der verordnete Verzicht auf Reisen und Osterferien kann auf diese Weise zu einem Anlass werden, die kulturelle Vielfalt der eigenen Straße, des eigenen Stadtviertels oder Dorfes zu entdecken und zum Klingen zu bringen – sei es schon jetzt beim interkulturellen Balkonsingen oder auch später bei den ersten kulturellen Gehversuchen zurück ins gesellschaftliche Leben.

Irgendwann in der vor uns liegenden Phase des Übergangs wird sich auch wieder die bereits angesprochene Frage nach verantwortbaren Raumkonzepten stellen. Diese Frage hat auch eine interkulturelle Dimension. Nicht jede Stadt verfügt über einen eigenen Konzertsaal. Was es hingegen in fast jedem Stadtviertel und jedem Dorf gibt, sind Kirchen. Sie bleiben gegenwärtig, ebenso wie die Synagogen und Moscheen, weitgehend ungenutzt, weil neben der großen Zahl an säkularen Konzerten auch alle Gottesdienste entfallen. Sobald aber das strikte Versammlungsverbot aufgehoben sein wird, werden sie aufgrund ihrer Größe und tragfähigen Akustik ideale Orte für die ersten Schritte zurück ins Kulturleben sein: In zwei oder mehr Metern Abstand, rund um das Mittelschiff stehend zu singen, ist nicht gesundheitsgefährdend und wird für viele kulturell ausgehungerte Menschen eine beglückende Erfahrung sein.

Gottesdienste sind exklusive religiöse Veranstaltungen, die von der Zusammenkunft und vom Unter-sich-sein der Gläubigen an einem begrenztem Ort und zu einem begrenzten Zeitpunkt leben. Die Kirchen selbst aber müssen deshalb nicht zwangsläufig auch exklusive Orte sein. Als sich im Nachkriegsdeutschland der 1940er und 50er Jahre durch Flucht und Vertreibung binnen kürzester Zeit das regionale konfessionelle Gefüge veränderte, fanden die neu entstandenen Gemeinden, bevor sie über eine eigene Kirche verfügten, mancherorts „Gottesdienstasyl“ in einer Kirche der jeweils anderen Konfession.

Corona schafft eine Ausnahmesituation, die bei einer partiellen und schrittweisen Lockerung des Veranstaltungsverbotes christliche Gemeinden begünstigen und Nichtgläubige oder kulturelle Minderheiten benachteiligen wird. Moscheen, Synagogen und migrantische Kulturvereine sind räumlich sehr viel weiter gestreut als Kirchen – nicht jede*r findet sie im eigenen Stadtviertel. Gerade die Angehörigen kleiner kultureller oder religiöser Gemeinschaften müssen häufig weite Wege zurücklegen, um zu „ihrer“ Gemeinde zu kommen. Ihre Räumlichkeiten sind häufig kleiner als Kirchen – zu klein möglicherweise, um sich dort im gebotenen Abstand zu begegnen.

Das Coronavirus unterscheidet nicht zwischen Nationalitäten, Kulturen und Religionen. Ostern, Pessach, der Ramadan (der dieses Jahr am 23. April beginnt) und der säkulare Veranstaltungsbetrieb sind auf gleichermaßen schmerzliche Weise beeinträchtigt. Ein guter Grund, den aktuellen Herausforderungen so einträchtig wie nötig und zugleich auf kultureller Ebene so vielstimmig wie möglich zu begegnen. Es wäre eine schöne Geste der Verbundenheit und Solidarität, nach einer entsprechenden Lockerung des gegenwärtigen strikten Versammlungsverbotes möglichst viele Kirchen zum nachbarschaftlichen und interkulturellen Singen und Musizieren „auf Abstand“ zu öffnen – und zwar ausdrücklich und ohne missionarische Hintergedanken auch für Nicht- und Andersgläubige.

Was wird bleiben?

Selbstverständlich gehören zum interkulturellen Singen auch unsere eigenen Liedtraditionen. Wann immer wir bei Trimum mit Geflüchteten gearbeitet haben, stand sehr weit oben auf der ensembleinternen Hitliste das Volkslied „Die Gedanken sind frei“.

Sich Perspektive, Zuversicht und die Freiheit der Gedanken zu bewahren, ist gerade in Zeiten beschränkter äußerer Freiheit („Und sperrt man mich ein...“) von größter Bedeutung. Deshalb ist es wichtig und wertvoll, dass dieser Tage so viel darüber debattiert wird, ob in dieser Krise auch Chancen für ein „Danach“ enthalten sein könnten. Werden wir nun endlich besser für kommende Pandemien gerüstet sein, vor der Wissenschaftler schon lange warnen? Werden wir endlich verstanden haben, dass wir die Erderwärmung und den Verlust der Biodiversität stoppen müssen? Werden wir endlich die pflegenden Berufe aufwerten und Gesundheitsversorgung von Profiterwartungen entkoppeln? Wir dürfen darauf hoffen – und wir können im jeweils eigenen Metier unseren kleinen Teil dazu beitragen, dass es so kommen wird.

Aus genau diesem Grund stellen wir auf www.trimum.de ab Anfang April in regelmäßigen Abständen kleine Tipps und Anregungen vor, welche Spielräume die gegenwärtige Situation für ein verantwortbares Musizieren von Mensch zu Mensch lässt.

Wir wünschen uns keine Kultur, die nach dem Ende dieser Krise völlig unberührt und unverändert zum Alten zurückkehren wird. Wir wünschen uns erst recht keine Musikwelt, die dann auf Dauer noch digitaler sein wird, als es jetzt schon der Fall ist. So unverzichtbar es gegenwärtig ist: Streaming ist die energieintensivste, klima- und umweltschädlichste Form der Speicherung von Musik, die es in der Geschichte der Menschheit jemals gegeben hat (Vgl. Kyle Devine: Decomposed. The Political Ecology of Music (2019). Ein Gespräch zu diesem Buch in deutscher Sprache findet sich auf https://spex.de/kyle-devine-decomposed-the-political-ecology-of-streaming-interview-deutsch/.)

Dem Gedanken hingegen, dass von dem, was wir gegenwärtig erleben und erdulden müssen, auch in der Musik eine Wiederentdeckung und gesteigerte Wertschätzung des Nahen, Unspektakulären und Nachbarschaftlichen bleibt, können wir durchaus etwas Positives abgewinnen. Als Musiker*in den eigenen Wirkungsradius, Umweltverbrauch und CO2-Ausstoß zu verkleinern; die kulturelle Vielfalt unserer Nahbereiche zum Leuchten zu bringen anstatt auf maximale Reichweite zu setzen und rastlos durch die Welt zu düsen – dies alles geht auch, ohne dass ein Virus den Ton angibt.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!