Vor einigen Tagen hat Albrecht Dümling bei nmz-online über das Förderungsdebakel bei der Veranstaltungsreihe „Unerhörte Musik“ berichtet. Dabei zitierte er aus Briefen von Aribert Reimann, Matthias Zschokke und Brett Dean. Auch die etwas jüngere Generation richtet sich gegen die Nichtförderung für 2015. Uns erreichte der „Offene Brief“ des in Belin lebenden Komponisten Maximilian Marcoll. Es geht ums Knochenmark, nicht um den Blinddarm.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Renner,
Nachdem die schockbedingte Lähmung einem spekulativen Grübeln über die Gründe gewichen ist, wie es zur Einstellung der Förderung der wöchentlichen Konzertreihe "Unerhörte Musik" gekommen sein kann, wurde klar: Es soll Platz gemacht werden für etwas Neues. Damit möchte ich Ihnen zu allererst grundsätzliches Wohlwollen unterstellen. Hoffentlich sind Sie einverstanden.
Möglicherweise stimmen wir sogar in der Ablehnung des Arguments überein, das bloße Alter einer bereits existierenden Institution könne ihr Fortbestehen legitimieren. Als freiberuflich arbeitender Künstler mit progressivem Selbstverständnis ertappt man sich hin und wieder bei dem Wunsch nach weniger Förderung etablierter Institutionen zugunsten unabhängiger Projekte. In der speziellen Situation in Berlin ist dies vielleicht besonders verständlich.
Natürlich muss man beim Abwägen der Förderwürdigkeit aber mit äußerster Behutsamkeit vorgehen und im Fall der "Unerhörten Musik" liegen Sie leider auf tragische Weise falsch. Sie ist nicht nur die älteste wöchentliche Konzertreihe für Neue Musik in diesem Land, das ist eben tatsächlich zunächst weniger wichtig. Aber: Sie ist die – bundesweit – EINZIGE!
Falls es Ihre Absicht war, Mittel für die Förderung der Berliner Szene für Neue Musik umzuverteilen um sie weiterhin lebendig und überlebensfähig zu halten (andere Motive mag ich mir nur ungern vorstellen) haben Sie sie leider verfehlt. Sie haben statt des Blinddarms das Knochenmark entfernt.
Abgesehen davon, dass die "Unerhörte Musik" nicht nur für die Berliner Szene von Bedeutung ist, sondern überregional, mittlerweile sogar international, einen ausserordentlichen Ruf geniesst, handelt es sich bei dieser Reihe mit durchschnittlich etwa 50 Uraufführungen im Jahr um einen tief in der kulturellen Infrastruktur verankerten Motor des Berliner Konzertlebens.
Hier wird nicht, wie andernorts, einmal im Jahr zum Festival geladen. Hier wird beständig und nachhaltig, regelmäßig und ausdauernd, offen und mit Weitblick für die Neue Musik in all ihren Facetten gearbeitet.
Es ist unwahrscheinlich, dass Sie die Entscheidung, sich und uns dieses Organs zu berauben, tatsächlich in vollem Bewußtsein über seine Bedeutung gefällt haben, weshalb ich Sie hiermit dringend bitte, noch einmal abzuwägen.
Andernfalls wird es hier in Berlin leider vor allem mehr UNGEHÖRTE Musik geben und das kann nicht in Ihrem Interesse sein.
Mit freundlichen Grüßen
Maximilian Marcoll
Berlin, 8.6.2014