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„Stadtverwandlung“: Werke von Andre, Ronchetti, Logothetis und anderen in Esslingen

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Durch die Esslinger Altstadt führen Nachtwächter und Kräuterhexe. Man kann oder vielmehr konnte sie am 3. Oktober auch musikalisch erkunden: als den „Höhepunkt des letzten Jahres“ des Netzwerk Süd. Der doppelte Vorteil: Wenn einem jemand Geschichten erzählt, etwa von Kassandra, Don Quijote, dem Minotaurus oder Pinocchio, sind sie klar als Fiktionen erkennbar. Und die Gegenwart, sei sie auch weniger schön, bleibt nicht ausgeblendet

Albrecht Imbescheids „Kassandra“ wirkt wie für das Münster St. Paul komponiert. Wenn der Komponist in die Bassflöte bläst, steht der Klang lange im Raum, dazu setzt Michael Kiedaisch auf Woodblocks und Marimba Akzente wie Regentropfen im Kellergewölbe. Frank Wörner intoniert nicht nur den sprachlosen Gesang, sondern artikuliert abwechselnd auch den gesprochenen Text, hier unterstützt durch elektronische Bearbeitung. Wie der Ruf einer Kassandra scheint seine Stimme aus den Tiefen der Seitenschiffe der 800 Jahre alten Dominikanerkirche hervorzuschallen.

Esslingen hat herbe Kontraste zu bieten. Der Uringeruch in der Unterführung zur Frauenkirche hält sich an diesem Abend in Grenzen. Es wirkt fast wie ein Sinnbild, wenn Suono Mobile in Michael Maierhofs „shopping 4“ Luftballone mit Spülschwämmen bearbeiten – und dabei eine erstaunliche Vielfalt an Geräuschen hervorbringen. In Marc Andres „iv8“ steht „iv“ für introvertiert. Andres Musik ist so introvertiert, dass in der Frauenkirche längere Zeit nur knarrende Kirchenbänke, die Tür, der Verkehr auf der Straße, Geflüster aus den hinteren Reihen und Kirchenglocken zu hören sind, auch wenn das Open_Music Streichtrio offenbar mit dem Bogen die Saiten bearbeitet. Wer sehr angestrengt lauscht und nicht zu weit hinten sitzt, bekommt schließlich doch noch etwas mit – ein musikalisches Erlebnis sieht anders aus. Dagegen wirkt Maierhofs zweites Werk mit kleinen Becken in der nächsten Unterführung direkt ansprechend und differenziert, trotz Verkehrslärm auf der darüber liegenden Ringstraße.

Vielleicht wäre Mark Andres Komposition im Gewölbekeller des Lima-Figurentheaters besser zu hören gewesen. Aber Andres metaphysische Spekulation – so wohl das Kalkül – gehört in die Frauenkirche, und ins Puppentheater viel eher Jan Kopps Spiegelfechterei. Überzeugend gibt Daniel Gloger den Don Quijote, dem in seinem letzten Abenteuer die eigenen Augen blind aus dem Handspiegel entgegenblicken: ein Kammerstück im wahrsten Sinne, das wie ein Spiegelkabinett Realität, Reflexion und Spiel durcheinander wirbelt. Derweil inszenieren die drei anderen Sänger der Neuen Vocalsolisten in der Musikschule „Labyrinthos“ von Anestis Logothetis. Es wirkt etwas bemüht, wie Andreas Fischer und Guillermo Anzorena, quasi als doppelter Minotaurus auf grauen Regenrinnen Didgeridoo blasend, Martin Nagy drangsalieren. Ähnliches hat weitaus unverkrampfter schon einmal Mike Svoboda mit dem Alphorn vorgeführt. Respekt verdient jedenfalls, wie Nagy, der selbst überhaupt nicht singt, mit einem Handstandüberschlag den Saal verlässt.

Mauricio Kagels Musiktheater kann umwerfend komisch sein. Die Collagierung einer ganzen Sammlung von Kagel-Stücken, auch mit Hilfe eines Ghettoblasters, durch das Gitarrenduo Conradi/Gehlen tendiert aber zum Klamauk, und dafür ist Kagel eigentlich zu schade. Bierernst nimmt dagegen Achim Bornhöft die Aufführung seiner Komposition „Lack“ im Kutschersaal der Esslinger Stadtbücherei. Er scheucht Zuschauer, die offenbar viel zahlreicher erschienen sind als erwartet, hinter den Lautsprechern weg, weil sie seine Musik für Flöte, Klarinette und Elektronik sonst nicht gebührend würdigen könnten. Aber auch in bester Sitzposition erschließt sich dem Hörer nicht, wie der Komponist „ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten in der Bearbeitung klanglicher Materialien“ angeblich aus handwerklichen Verfahren wie „Sägen, Schleifen, Hobeln oder eben Lackieren“ gewinnt. Der Höreindruck besagt: neben den eigentlichen Instrumentaltönen steht deren elektronisch verfremdeter Nachklang zunehmend länger im Raum.

Nach einem weiteren Intermezzo der beiden Elektrogitarren bietet die abschließende Aufführung von Lucia Ronchettis „Pinocchio“ eine Entschädigung für manche Längen. Der Untertitel „una storia parallela“ geht aus von Giorgio Manganellis „Pinocchio: un libro parallelo“. Es ist wohl kaum möglich, alle Anklänge zu erfassen, die allein das Thema, weit mehr noch als etwa im Deutschen der Struwwelpeter, in Italien auslöst. Eines aber ist sicher: Lucia Ronchetti übersetzt sie kongenial in Musik. In einem polyphonen Nebeneinander verschränkt sie Spott und Ernst, elterliche Mahnungen und jugendliches Aufbegehren so dicht, dass es fast Mühe kostet, dem Wechsel der Stimmungslagen zu folgen. Hier sind die Neuen Vocalsolisten, für die Ronchetti das Werk 2005 komponiert hat, ganz in ihrem Element: virtuoser Gesang, ein wenig Schauspielerei und im Zusammenspiel der vier Stimmen trotz starker Kontraste wie aus einem Guss.
 

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