Hauptbild
Die absolut letzte Rockband dieser Erde und ihr Publikum: Pearl Jam in Berlin. Foto: Sven Ferchow
Die absolut letzte Rockband dieser Erde und ihr Publikum: Pearl Jam in Berlin. Foto: Sven Ferchow
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Propheten sind sie also auch noch: die US-Rocker von „Pearl Jam“ in Berlin

Autor
Publikationsdatum
Body

Als Gitarrist Mike McCready die ersten Takte von „Yellow Ledbetter“, einer gediegenen Adaption von Jimi Hendrix’ „Little Wing“, anspielt, wissen die Pearl Jam Fans, was die Stunde geschlagen hat. Unweigerlich gilt „Yellow Ledbetter“ seit vielen Jahren als definitiv letzter Song einer Pearl Jam Show. Und gerade deshalb scheinen sich die Fans noch einmal zu sammeln. Es wird ruhig in der halbrunden Arena, die den gesamten Tag über von 30 Grad unerbittlichem Sonnenschein erhitzt wurde.

Die 18.000 Konzertbesucher der Berliner Wuhlheide kehren in sich, lauschen dem famosen Spiel McCreadys und lassen die vergangenen zweieinhalb Stunden im Zeitraffer vorbei ziehen. Ähnlich scheint Sänger Eddie Vedder zu fühlen. Er sitzt irgendwo auf der Bühne. Bewundernd starrt er seinen Kumpel McCready an, der gegen Ende des Songs keinen Exitus finden mag und das Hauptriff immer wieder in verschiedenen Variation anbietet.

Was aber war vorher geschehen? Ein fast normales Pearl Jam Konzert? Ja. Aber auch entschieden „Nein“. Denn kein Pearl Jam Konzert ist mit einem folgenden oder vorhergegangen vergleichbar. Wie es desgleichen die Band nicht ist. Dafür sorgen sie seit knapp zwei Jahrzehnten. Vielmehr wirken sie als Antithese zu U2 und dem gesamten Musikgeschäft. Denn wo U2 und andere Bands für ihre Liveshows die Stromversorgung ganzer Großstädte in die Knie zwingen, reichen Pearl Jam ein paar kärgliche Scheinwerfer, ein anspruchsloses Bühnentransparent, das schon 2007 in München zu sehen war, und ein paar Lautsprecher, die bei U2 allenfalls die Probraum-Gnade finden würden. Keine Videoleinwände, keine überdimensionalen LCD-Bildschirme mit ausgetretenen wie halbgaren Botschaften. Eigentlich gibt es nichts. Außer Pearl Jam. Und deren Musik.

Während U2 neue Alben von zyklopischen Marketingkampagnen begleiten lassen, die anschließend mit gigantischem Kapitaleinsatz beim Fan gefestigt werden, vergisst es Eddie Vedder doch tatsächlich auch nur ein einziges Mal auf das am 18. September 2009 erscheinende neue Album „Backspacer“ hinzuweisen. Man bleibt bescheiden. Und wo sich U2 als Gruppentherapie in den nahen und fernen Osten begeben, um neue Einflüsse für ihr aktuelles Album „No Line on the Horizon“ aufzusaugen, bleiben Pearl Jam in Seattle und schreiben Rocksongs. Denn, und das ist der Unterschied: Pearl Jam haben Einfluss. Man mag das nonchalant als stur und änderungsresistent auslegen. Aber exakt diesen Unterschied bekommen die Besucher eines Pearl Jam Konzertes bei jedem einzelnen Song zu spüren.

Ihre Konzerte sind Spontaneität. Die Setlisten werden kurz vorher festgelegt. Wer am Samstag in Berlin war und weiter mit der Band nach England reist (was übrigens zahlreich praktiziert wird), kann sich sicher sein, bis auf drei oder vier Ausnahmen, nicht wieder die gleichen Songs zu hören. So wurde Berlin mit „Bee Girl“ bedacht, das seit 1993 insgesamt erst neun Mal live aufgeführt wurde. Dazu noch mit Bassist Jeff Ament an der Gitarre. Oder „Faithful“, das Eddie Vedder der Band quasi auf Publikumszuruf (Pappschild eines Zuschauers) verordnet: „It’s a request“, ruft er den Bandkollegen grinsend zu und denen macht es nichts aus, eben einen Song einzufügen. Könnte man sich das bei U2 vorstellen? Auf Zuruf zu agieren, wo doch jede Glühbirne ihren Platz, jeder Musiker seine aufgemalte Position haben muss, um das Showkonzept nicht zu gefährden. Und vielleicht noch einen Song, den Bono gar nicht mehr kennt oder den sie nicht geprobt haben?

Bei Pearl Jam ist das bitteschön Standard. Alle Songs der Bandkarriere müssen parat stehen. Selbst solche, die vor zwei Jahren zuletzt gespielt wurden. Natürlich haben Pearl Jam nicht nur die Mauerblümchen-Songs. Auch Hymnen wie „Even Flow“, „Alive“ oder „Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“ bieten sie an. Das Gute dabei ist allerdings, dass die Band das nicht zu wissen scheint. Und dementsprechend unprätentiös kommen diese getarnten Hymnen an. Ehrlich und direkt. Ein klein bisschen Schelte für die Kritiker der Band nistet sich manchmal noch subtil in die Auswahl der Songs ein. So werden in Berlin vier Songs des viel gescholtenen Albums „Binaural“ gespielt. Verbunden mit der klaren Botschaft: „Eure Kritik ist uns egal“.

Dazwischen vermeidet Eddie Vedder in seinen Ansagen nahezu jegliche politische Stellungsnahme. Gut, John Kerry haben sie mal unterstützt. Und Obama ist ihnen ganz recht. Aber sonst bleibt es bei kleinen Seitenhieben auf Religionen und der unterschwelligen Mitteilung, dass Pearl Jam mit ihrem Song „Unemployable“ bereits 2006 auf eine Zeit hingewiesen haben, die viel mit Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Desillusion zu tun hat. Propheten sind sie also auch noch.

Was aber macht die Band sonst noch so speziell, so eigen? Nun, das Publikum. Eine bunte europäische Mischung tummelt sich da bei jedem Konzert. Denn die Band geizt nach wie vor mit ausgedehnten und ausgefeilten Tourplänen. Also heißt es anreisen. Aus Griechenland, Polen, Kroatien, Irland, Dänemark, Schweden oder Regensburg. Und wer denkt, der typische Pearl Jam Fan sei um die 40, liegt komplett daneben. Von 13 bis 60 darf man das Publikum schätzen. Auch so ein Indiz, dass Musik mehr als Verkaufen und Vermarkten sein kann. 2009 bietet die Band erneut ihr hoffentlich patentiertes Bootleg-System an. Die Liveshows werden mitgeschnitten und können als MP3 Version bereits ein paar Tage später für knappe zehn Euro erworben werden. So schafft man Emotionen und Erinnerung, die die Fans der Band seit vielen Jahren mit unerschütterlicher Treue zurückzahlen.

Die Quintessenz des Berliner Abends ist schnell erklärt. Pearl Jam ist die absolut letzte Rockband dieser Erde. Ihr Konzept der partiellen kommerziellen Verweigerung funktioniert prächtig. Und hält frisch. Denn engagierter, spielfreudiger und befreiter wie in Berlin hat man die Band selten gesehen. Matt Cameron an den Drums, Stone Gossard an der Gitarre und Boom Gaspar an den Keyboards komplettieren eine Band, deren Ideale keine kitschigen Klischees sind, sondern gelebte Musik.

Und so findet selbst Mike McCready ein Ende zu „Yellow Ledbetter“. Lässt den letzten Ton fast unnötig lang ausklingen, verbeugt sich aufrichtig und dankend mit seinen restlichen Mannen vor einem Publikum, das den Abend laut Eddie Vedder zu einem unvergesslichen für die Band gemacht hat. Und deshalb meint er, wird Berlin in den Planungen der nächsten Auftritte wieder seinen Platz finden.

Setlist, Berlin, Wuhlheide, Samstag 15. August 2009

Hauptset:
Why Go, Hail Hail, The Fixer, Corduroy, I Am Mine, Nothing As it Seems, Untitled, MFC, Gods' Dice, Even Flow, Unemployable, Severed Hand, Light Years, Daughter (Blitzkrieg Bop), Got Some, Glorified G, Brother, Insignificance, Do The Evolution

Zugaben 1:
Bee Girl, Better Man (Save it for Later), Given To Fly, Hard To Imagine, Alive

Zugaben 2:
Angie, Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town, Faithful, Sonic Reducer, Rockin' In The Free World, Yellow Ledbetter

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!