„Es geht nicht länger an, dass ein hoher Chef d'Orchestre seine Pultmusiker weiterhin an den Unzusammenhang einer Spielstimme verbannt, um sie, die vom Ganzen erst gar nichts erfahren und kaum sinnvoll aus sich selbst heraus gestalten können, besser in dem beherrschenden Griff zu halten. Das ist Ausbeutung und schlampige Tradition, solche Zustände gilt es abzuschaffen“ … wetterte einst der in Emden geborene und im ostfriesischen Delmenhorst lebende Komponist Hans-Joachim Hespos und zog daraus von Anfang an alle Konsequenzen fürs Komponieren und Musizieren.
Alle Musiker spielen stets aus einer Partitur. Und er schrieb Noten und Spielanweisungen, die ein „dienstmässiges“ Spielen unmöglich machen. Seine Musik ist selten eine Setzung, sondern immer ein Horchen, ein Warten, ein Reagieren, das den Hörer mitnimmt auf eine Reise in „riskantes Leben und lebendige Prozesse“ (Hespos), wenn man denn zuhört. Er hat
seine eigene Notenschrift entwickelt mit Interpretationsanweisungen wie „in sich quirlig vermanscht“, „spuckig“, „zerknautscht“, „näselnd verbeult“, aber auch
„näselnd verpresst“ und weiter: „kreischRISSscratch“, „trockenStille“, oder „mit reichem Dämpferspiel irres geklitter vielfältiger Echoschwingungen erzeugen“. Über 6.000 solcher Spielanweisungen gibt es in den Partituren, die ein allein professionelles Abspielen nicht erlauben, sondern eine totale Identifizierung provozieren, wie es im Jazz der Fall ist. Und ein eifriger Journalist hat auch einmal festgestellt, dass sich keine einzige Anweisung in inzwischen über 250 Werken wiederholt.
Damit hat sich Hespos, der am 13. März 75 Jahre alt wird, seinen speziellen und einzigartigen Ruf erworben: den Ruf, Musiker in ihrer eigenen Kreativität ernst zu nehmen und ihr extremstes Können zu fordern und gleichzeitig seine angebliche Unspielbarkeit zu zementieren. Das erste führt zu beglückenden und geglückten Erlebnissen, das zweite zu Widerständen, die teilweise in Skandalen mündeten.
Stets bezieht er auch die Psychodramatik und -dynamik von Musik in das musikalische Geschehen szenisch ein: Wenn einer seine Stimme sucht, wenn er nicht weiterzukommen glaubt, wenn er eine Konkurrenz aufbaut, wenn das Verhältnis von Dirigent und Spielern ironisiert wird, wenn im „Ohrenatmer“ der Trommler mit seinen Keulenschlägen die hochgehängte Trommel nie erreicht: nicht selten führt das zu einer unbeschreiblichen Komik.
Hespos, einst in einem Kompositionsseminar gefragt, welchen Stil man denn heute komponieren solle, den minimalistischen, den bruitistischen, den seriell komplexen, den postmodernen…, sagte spontan: „Wenn du das fragst, dann klebe lieber Briefmarken oder backe Brötchen“. Eine Bemerkung über die Anforderungen an die Kreativität des Komponisten – der seiner Ansicht nach „Lebenspraxis“ schreibt –, die keiner Erläuterung mehr bedarf.
Zahlreiche Kulturereignisse hat er auf dem platten Land ins Leben berufen, das älteste und international bekannte ist das Minifestival „Neue Musik in Delmenhorst“, das an jedem 11.11. stattfindet, „damit niemand je diesen Termin vergisst“. Hier treten die besten Interpreten der Neuen Musik auf, hier finden unzählige Uraufführungen statt.
Hespos' Liebe gilt szenischen Werken, auch der Oper. Acht abendfüllende Werke sind entstanden und uraufgeührt worden, zum Beispiel „itzo-hux“ 1981 in Oldenburg, „Nachtvorstellung“ 1986 in Bremen, „iOPAL“ 2002 am Staatstheater Hannover. „iOPAL“ nennt er ganz traditionell „große Oper“ – es ist eine Hommage an den von ihm verehrten Gesang des Belcanto. Diese Aufführung wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur „Oper des Jahres“ gekürt. Das Prinzip des Belcanto, das Luigi Nono genauso geschätzt hat, mit dem die pure Emotion auf dem Atem und der gesanglichen Linie liegt, fasziniert ihn bis heute seit Jahren und findet auch seinen Niederschlag in vielen anderen Werken. In den letzten Jahren allerdings ist wieder verstärkt Kammermusik entstanden, zum Teil mit szenischen Anteilen.
Die Betreuung von Komponisten durch Verlage hält er für moderne Sklavenhaltung und er hat auch hier die Konsequenzen gezogen: Hespos hat nicht nur seinen eigenen Verlag, sondern ist auch dort der einzige Mitarbeiter. Das heißt, er macht bis zum Briefmarken kleben alles, wirklich alles selbst. Für unzählige Aufführungen in aller Welt heißt das: Material herstellen, verschicken, Rechnungen schreiben, Konzerttermine mitteilen und vieles mehr. Der dafür erforderliche Arbeitseinsatz und die entsprechende Disziplin fällt ihm offensichtlich nicht schwer: morgens ist er der Verlag und sonst der Komponist Hespos. Die Partituren des mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichneten Komponisten liegen seit 2005 an der Berliner Akademie der Künste.
Auf die Frage, warum er komponiere: „Komponieren, Singen – das gehört für mich zum Leben wie Atmen, Lieben, Denk-Fühlen, Verdauen, Lachen, Weinen. Komponieren heute – gar keine Frage. Inmitten einer Welt, in der die einen absterben im Überfluss, die anderen vor Hunger krepieren, in mitten einer Welt des Todes sind Signale zu rufen, für das Wunder des Lebendigen“.