Bevor in den nächsten Spielzeiten an der Deutschen Oper Berlin Meyerbeers große Bühnenwerke „Vasco da Gama“, „Die Hugenotten“ und „Der Prophet“ inszeniert werden, erfolgte – zum Zeitpunkt der planungsgemäß fortdauernden Arbeiten an der Obermaschinerie des Hauses an der Bismarckstraße – in der Philharmonie eine emphatisch gefeierte Aufführung von Meyerbeers Opéra comique „Dinorah“ – und gar nicht so konzertant, wie angekündigt.
Das in sieben Fassungen überlieferte Bühnenwerk „Dinorah ou Le Pardon de Ploermël“, das 1859 als letzte Oper Meyerbeers zu dessen Lebzeiten seine Uraufführung an der Pariser Opéra-Comique erlebte, erfolgte in der Urversion, in der sich Dialoge und Musiknummern ablösen.
Die Hochzeit von Dinorah und Hoël, wird durch ein Unwetter auf der Wallfahrt zur Kapelle verhindert. Da ein Blitzschlag die gemeinsame wirtschaftliche Zukunft zu zerstören scheint, verlässt er sie, und sie wird wahnsinnig und wandert mit einer Ziege umher. Er geht auf Schatzsuche und begegnet, kurz vor Ablauf eines Jahres, der Wahnsinnigen wieder. Ein neues Unwetter kommt auf, dabei kommt Dinorah fast ums Leben, aber aufwachend ist sie gesundet, das schlimme Jahr scheint vergessen und die Hochzeit findet statt.
Die durchaus witzige Handlung, die an deutschen Theatern zuletzt im Jahre 2000 zu erleben war, als John Dew sie in Dortmund skurril und realistisch überzeichnet als Krankheitsbild der Titelheldin inszeniert hat, hätte man sich an der Komischen Oper gewünscht, wo sie trefflich hinpassen würde.
schlachtschiffartig exerziert
In der Berliner Philharmonie wurde „Dinorah“ mit einem Orchesteraufwand, wie ihn diese Partitur sicherlich noch nie erlebt hat, geradezu schlachtschiffartig exerziert. Das rhythmisch die musikalische Einleitung ausfüllende Wechselspiel zwischen dem großen Streicherapparat (mit 15 ersten Violinen) und dem Glöckchen der unsichtbaren Ziege erlangte hier geradezu kosmische Bedeutung. Und für ungewohnte szenische Höhepunkte sorgten die sonst unsichtbaren Geräusch-Instrumente der Bühnenmusik, wie die Windmaschine, die nachgebaute Einsturzmaschine (ein mit Steinen gefüllter, hoher Holzkasten), oder die extrem niedrig gehängte Kirchenglocke.
Dass auch im Spiel der Protagonisten der Witz nicht zu kurz kam, dafür sorgte ein rollendeckendes Solistenensemble, welches auch ein Plädoyer für die aufgrund der Dialoge im internationalen Opernbetrieb heftig im Schwinden begriffene Kunstform der Opéra comique zu schlagen vermochte. Der Buffotenor Philippe Talbot als überaus ängstlicher Dudelsackpfeifer Corentin ließ bereits seinen ersten Sprechtext beinahe wie den a cappella-Gesang aus einer zeitgenössischen Oper erklingen. Auch die weiteren Dialoge wurden nicht als störende Unterbrechungen empfunden, und die Melodrame zählten durchaus zu den Höhepunkten des dreistündigen Abends.
Einziger Beitrag Meyerbeers zur Opéra comique
Obgleich durch Noten auf Pulten unterstützt, bewiesen die Solisten, dass sie Mitglieder der Deutschen Oper und damit auch Künstler der Szene sind. Dinorah suchte inmitten des Publikums nach ihrer verlorenen gegangenen Ziege und wiegte die Unsichtbare bei ihrem Schlaflied in den Armen. Corentin integrierte in seine Schrecken das geradezu magisch mit ihm ab- und aufwärtsfahrende Notenpult.
Die Opernbesonderheit des Vollenders der Grand Opéra – denn „Dinorah“ ist neben der Umformung des „Feldlagers in Schlesien“ zu „L’Étoile du Nord“ der einzige Beitrag Meyerbeers zur Opéra comique – steht und fällt mit der Titelpartie, in der u. a. Maria Callas Maßstäbe gesetzt hat. Bereits in der von Klarinette solo begleiteten Arie hat Patrizia Ciofi ihr Publikum gewonnen, und nach „Ombre légère“, der Bravourarie mit Schattentanz und mit von der Sopranistin trefflich erzeugten Echoeffekten ihrer intonationssicher und makellos geführten Stimme wetteiferte das Publikum mit Applaus, emphatischen Bravo- und Brava-Rufen an Dauer und Intensität mit der Länge der Arie.
Etienne Dupuis verkörpert den Schatz suchenden und dann seine Braut als seinen Schatz wiederfindenden Hoël sympathisch mit leichtem aber markantem Bariton; sein Forcieren erscheint unnötig, schmälert es doch den Gesamteindruck seiner Leistung.
Zusätzliche Couleur bietet ein Quartett aus zwei Schäferinnen (Elbenita Kajtazi und Christina Sidak), einem Mäher (dem leichten Tenor Gideon Poppe), sowie dem hinreißenden Bariton Seth Carico, der auch in der Eröffnungsszene des dritten Aktes, mit einem wunderbar in Naturtönen aufspielenden Hornquintett, hinter dem Orchester als Jäger agiert.
Der von William Spaulding einstudierte Chor der Deutschen Oper Berlin hat enormen Anteil am Erfolg dieses Abends, obgleich sich dessen Einsatz auf wenige Momente beschränkt: im genderkontrastrierenden Wechselspiel von Summen und Gesang, bei dem im Sitzen summend beigesteuerten Klangflächen oder stehend im Fortissimo triumphierend, kostet dieser stimmgewaltige Klangkörper die chorischen Effekte der Partitur aus und macht sie zum Genuss.
Unter Enrique Mazzolas beschwingter, aber brachialer Leitung schafft das Orchester der Deutschen Oper Berlin eine lyrisch-dramatische Einheit aus der mehr als einmal an Offenbach gemahnenden Partitur. (So klingt als Naturkoloristik etwa der Anfang der Barcarole aus den „Rheinnixen“ bzw. „Hoffmanns Erzählungen“ an.) Die humoristische Brechung der romantischen Geister- und Feenwelt wird zu einem gleichermaßen intellektuellen, wie sinnlichen, klangfarbenreichen Erlebnis.
Der jüdische Komponist Meyerbeer stellte seine weltoffene Haltung mit einem eigenwillig freigeistigen „Pater noster“, als einem überaus wirkungsstarken Quartett der Landleute, ebenso unter Beweis, wie seine Integration in die christliche europäische Gesellschaft mit den die Handlung rahmenden, auch final im Ohr bleibenden, chorischen Anrufungen „Sainte Marie“, bei der zweimaligen Wallfahrt und der am Ende nachgeholten Hochzeit.
Die mit Unterstützung des Palazzetto Bru Zane erstellte Produktion, zu der auch ein dreitägiges Meyerbeer-Symposion stattfindet, erntete einhelligen Jubel.
- Rundfunkübertragung in Deutschlandradio Kultur: 4. Oktober 2014.