Der Wettergott ist ungnädig und schickt Wolken über das Voralpenland. Die Reggae-Gemeinde trägt es mit Fassung und zieht Gummistiefel an. Eindrücke vom Chiemsee Summer, einem der größen Festivals der Bayerischen Musiklandschaft.
„Geil, geil, geil!“, meinen Simone und Debby. „Wir waren schon auf dem Hurricane oder dem Area 4, aber hier, das ist super, die Stimmung, die Leute, die Sicherheit“. Nun gehören die beiden Festivalpilgerinnen aus der Ruhrpott in diesem Fall zu den Privilegierten, denn sie haben etwas mehr Geld in die Hand genommen und sich einen Platz in den Holzhäusern geleistet, die extra zum Chiemsee Summer als Spezialangebot gezimmert wurden. Tausende andere campieren in Zelten, stehen im Regen, waten im Matsch. Das sind verschärfte Bedingungen zum Jubiläum des größten Reggae-Festivals in Deutschland, das in diesem Jahr zum 20. Mal in Übersee im eigentlich so einladenden Chiemgau über die Bühne geht. „Wir haben uns natürlich vorbereitet“, erzählt Martin Altmann von Amok, der zusammen mit dem überregionalen Veranstalter FKP Scorpio den Chiemsee Summer organisiert. „Wir haben sogar eine eigene Wäscherei auf dem Gelände, aber ab einem gewissen Punkt ist man dem Wetter doch ausgeliefert.“ Also Schlamm wegräumen, überall anpacken und versuchen, alle bei Laune zu halten.
Und das sind eine Menge. Weil in dieser Saison erstmals das kleinere Festival Chiemsee Rocks und der Chiemsee Reggae Summer zu einer Veranstaltung zusammengefasst wurden, haben sich immerhin 35.000 Musikfans vor Ort eingefunden. Auf zwei großen Zeltbühnen und der Mainstage unter freiem Himmel, außerdem auf mehreren kleinen Podien und im Tanz-Zelt des befreundeten Münchner Clubs Harry Klein wird Musik gemacht, ein Riesenrad und zahlreiche Marktstände von Greenpeace bis zu afrikanischen Schnitzeln sorgen für eine Mischung aus Kirmes und Festivalgefühl. Man kann Komfortableres buchen, wie eben die Holzhütten, den Komfort Camping oder den Zugang zur VIP-Lounge, oder sich einfach nur ein Wochenende mit viel Musik gönnen, Matsch und batzige Verbrüderungen inklusive. Rund 2.000 Leute sind insgesamt damit beschäftigt, dass das Festival rund läuft, was auch heißt, dass der Chiemsee Summer längst seinen Rückhalt in der Bevölkerung hat. „Im Gemeinderat fallen viele Entscheidungen zum Festival inzwischen ohne Gegenstimmen“, ergänzt Altmann, der selbst aus der Region stammt und von Anfang an zum Team gehört.
Reggae als Tourismusfaktor im Voralpenland – das ist eigentlich ein Kuriosum und war zunächst ein Nischenphänomen. Über die Jahre aber hat es sich fest im Bewusstsein von Publikum und Künstlern verankert. Musiker aus aller Welt kommen an den See, Legenden der Szene wie Jimmy Cliff und Alpha Blondy, die popinfiltrierten Kollegen der zweiten Generation wie Shaggy oder Bennie Man, einheimische Größen wie Jamaram, Irie Révoltés oder Seeed, die beispielsweise am Freitagabend sich mit einer famosen Mischung aus Reggae-Revue, Soul, Funk und Hiphop als wahrscheinlich beste deutsche Szeneband empfohlen haben. Da es aber den stilistisch einheitlichen Fan, der fünf Tage lang die Dreadlocks schwingend nur zu Off-Beats wippt, nicht mehr gibt, hat sich das Festival längst auch anderen Stilen geöffnet.
Nahe liegt natürlich Hiphop, über Raggamuffin und Dancehall längst Teil des Reggae-Umfelds, den internationale Headliner wie Macklemore oder auch heimische Stars von Casper, Prinz Pi, Blumentopf bis Marteria präsentieren. Es gibt laut und lustig Rockendes mit Bands wie den Emil Bulls, Blink 182 oder Kakkmaddafakka, Liedermacher und Bekenntnisrocker wie Thees Uhlmann oder Bela B, als Finale sogar Clubafines mit Paul Kalkbrenner auf der großen Bühne, übrigens endlich ohne den lästigen Regen als Begleitprogramm. Letztlich ist für fast jeden Geschmack etwas dabei, obwohl der prominent vertretene Reggae weiterhin die Besonderheit bleibt. Das Konzept der umfassenden Bespaßung mit einer Prise Freak-Appeal und viel professionellem Enthusiasmus scheint jedenfalls aufzugehen. Trotz Matsch und reichlich zusätzlicher Arbeit strahlt Altmann, als er am Ende des Konzertmarathons das Motto für die nächsten Runden ausgibt: „Wir wollen nicht mehr unbedingt größer, aber immer noch besser werden“. Damit Mädels wie Simone und Debby jubilieren, aber es auch die Künstler weitersagen, dass es in Übersee etwas zu erleben gibt.