Die Deutsche Oper Berlin mit „Aida“ auf dem Sparkurs. Unser Kritiker vor Ort, Peter P. Pachl, war nicht amüsiert.
Die Deutsche Oper Berlin war schon wiederholt Aufführungsstätte ungewöhnlicher szenischer Deutungen der „Aida“, von Wieland Wagner bis Götz Friedrich. Für die jüngste Neuinszenierung zeigt Benedikt von Peter, gemeinsam mit der Dramaturgin Dorothea Hartmann, die Opernhandlung als Spiegelung der Ménage à trois des alten Verdi mit Giuseppina Strepponi und Teresa Stolz – ein autobiografisch politikverdrossener Ansatz. Die Ausführungen dazu lesen sich im Programmheft durchaus schlüssig, wenn auch – auf sieben Seiten ausgedehnt – arg bemüht: für „Aida“ als „Kammerspiel“ wird der „zentralperspektivische Innenraum“ des Opernhauses zum „beste[n] Mausoleum, das man bekommen kann“. In der Realität der Aufführung erweist sich dieser Ansatz als ein gefährliches Sparkonzept.
Tatsächlich werden bei solchem Prozedere für das Paradebeispiel einer Ausstattungsoper weder Elefanten, noch Dromedare oder Pferde benötigt, ja nicht einmal Statisten. Und die hohe Schule der Opernregie, die Chor-Führung, ist auch nicht erforderlich, wenn der gut 100-köpfige, musikalisch von William Spaulding einstudierte Chor und Extrachor teils im Zuschauerraum sitzt, teils aus den Gängen der Ränge singt.
Im Bühnenraum, hinter einem Gazeschleier optisch leicht entrückt, spielt dafür um so lautstärker das Orchester der Deutschen Oper Berlin. Davor, auf dem überdeckten Orchestergraben, agieren tatsächlich nur die drei Hauptdarsteller der Handlung. Dazu lässt Bühnenbildnerin Katrin Wittig auf 33 Schwarz-Weiß-Monitoren die Gesichter potentieller weiterer Akteure flimmern, dazwischen flattert auf den Bildschirmen die Live-Übertragung des überaus agilen Dirigenten Andrea Battistoni. Ein Arbeitstisch mit Stühlen, darüber ein Screen, auf dem projiziert wird, was auf dem Tisch liegt: eine Landkarte, eine Ansichtskarte und später ein Messer. Bisweilen werden die Akteure live auf die Seitenwände projiziert, im dritten Akt überlagert eine Wellenprojektion die Szene, und die Projektion der realen schwarz-weißen Ansichtskarte wird mit ihrer farbigen Version überblendet.
Noch deutlicher gespart wurde beim Kostüm von Helene Schwind: der bebrillte Radames als exotikverliebter Forscher im Alltagdress, Amneris in blauem Gewand und Aida „wie eine klassische ‚femme-fatale’“ (B. v. Peter) im cremefarbenen Abendkleid. (Ein viertes Kostüm, das von Radames libidinös bespielte und von Amneris in die Ecke gefeuerte, zweite weiße Aida-Kleid dürfte spartechnisch aus dem Fundus stammen.)
Ihre Pharaonenkrone bastelt sich Amneris aus einer Zeitungsdoppelseite, und die Orden, die sie Radames auf die Brust klebt, sind Flüchtlings-Fotos als Ausrisse aus aktuellen Journaillen.
Lurenbläser, welche die Fanfaren des Triumphmarsches á la Bayreuth vor Beginn der Aufführung im Foyer intoniert haben, dürfen später als Bühnenmusiker ausnahmsweise ebenfalls die Vorderbühne betreten. Das Publikum darf „aufgrund der Platzierung von Mitwirkenden im Besucherbereich“ erst „ab 5 Minuten vor Vorstellungsbeginn“ ins Auditorium (Besetzungszettel). Dann sind bereits eine Reihe von Plätzen im Parkett mit Chorist*innen besetzt, die sich von dort, in privater schwarzer Abendkleidung singend, zweimal auch stehend, in den Ablauf einfügen werden. Eine Ankündigung der Deutschen Oper Berlin verweist daher vorsorglich auf „temporäre Sichtbehinderungen [...]. Mit Hilfe von Videoübertragungen wird das Geschehen für alle sichtbar gemacht.“
Von den Rang-Brüstungen schmettern der König (Ante Jerkunica), Ramfis (Simon Lim), Amonasro (Markus Brück), der Bote (Attilio Glaser) und die Priesterin (Adriana Ferfezka) ihre Einsätze – und den darunter sitzenden BesucherInnen wird ein besonderes Erlebnis zuteil: sie werden mit der Spucke feuchter Sänger-Aussprache nachhaltig benetzt. Verstärkte Sängerstimmen kennt der Operfreund von der Bregenzer Seebühne, wo die Amplifizierung allerdings weitaus gekonnter umgesetzt wird als in dieser Opernproduktion, wo die elektroakustische Verstärkung der solistischen Stimmen aus dem Rang mit der von Discos zu wetteifern scheint: Vertrauen auf Phonlautstärke statt auf Differenzierung.
Am zweiten Teil des Abends klappern die SängerdarstellerInnen auf dem Rang mit halb gefüllten Tablettenröhrchen (zumindest klingt es so, wobei mir als dramaturgische Begründung dafür nur der alte Theaterspruch „Klappern gehört zum Handwerk“ eingefallen ist).
Insbesondere auf der Bühne selbst ist das Niveau des dort unverstärkten Gesanges sehr hoch. Wie häufig Radames ein Tacet hat, wird erst deutlich, wenn er pausenlos auf der Bühne ist. Der mühelos obsiegende Tenor Alfred Kim krümmt spastisch seine Hände, wenn die wieder einmal über die Szene geisternde Aida statt der Füße ihres dort nicht anwesenden Vaters die des Geliebten umklammert. Tatiana Serjan vokalisiert die Titelpartie wonnevoll, imposant im Liebes-Wettstreit mit der dramatisch dominanten Anna Smirnova, die als Amneris ihren Platz auf der Bühne behauptet (während Rivalin Aida im vierten Akt auch in den ersten Rang verbannt, aber glücklicherweise dort nicht elektroakustisch verstärkt wird). Als besonderen Regiegag täuscht die erfolgsverwöhnte Pharaonentochter Amneris, nachdem sie den Screen herabgerissen und das Frühstücksgeschirr zertrümmert hat, ihren eigenen Tod vor.
Wiederholt setzt von Peters Inszenierung auf Lacher, etwa wenn Amneris dem Radames eine Knackwurst serviert oder anstelle des Siegerkranzes ein dürftiges Margeriten-Sträußchen überreicht (und so auch ein weiteres Mal das Sparkonzept betont).
Zur Applausordnung wird der Gazeschleier vor dem Orchester abgerissen. Der imposante Klangkörper und der Dirigent werden dann vom Premierenpublikum ebenso lautstark bejubelt wie die phonstarken Solisten. Und ebenso laut wird der Regisseur mit seinem arbeitstechnisch unterforderten Team wütend ausgebuht.
Dabei ist die Vorgehensweise des Regisseurs weder neu noch ungewöhnlich: die Reduktion ganzer Opernhandlungen auf ihren Hauptprotagonisten gab es bereits im letzten Jahrhundert – da allerdings als Experiment freier Musiktheater-Formationen (etwa Tannhäuser erlebt die Handlung des Tannhäuser in der Einsamkeit).
Gefahrvoll an dieser Inszenierung erscheint mir die Vorreiterrolle Berlins: Die Schließung des Schiller-Theaters, gleich nach der Wende, ermöglichte es erst, dass kleine, noch ärmere Städte als das „arm doch sexy“ protzende Berlin, sich moralisch zur Schließung ihrer Theater ermächtigt fühlten. Nun reitet die Neuinszenierung der „Aida“ an der Deutschen Oper Berlin den Theater-Sparkommissaren willfährig voran.
Dem fragwürdigen System der Stagione auf italienischen Provinzbühnen des vergangenen Jahrhunderts gemäß, lässt sich eine Produktion wie diese Spar-„Aida“ innerhalb weniger Tage erstellen.
Blickt man beispielsweise auf das Volkstheater Rostock, wo in Aufführungen der „Meistersinger von Nürnberg“ weniger als einhundert Besucher gezählt wurden (bei mehr als doppelt so vielen Mitwirkenden), so wäre dort mit der Berliner Vorgehensweise nicht nur die statistische Platzausnutzung gründlich saniert, auch die Kostümwerkstätten ließen auf ein bis zwei Schneider reduzieren und besagte „Meistersinger“ ließen sich – scheinbar innovativ – szenisch als Traum des einsamen Possendichters Hans Sachs realisieren...
- Weitere Aufführungen: 22., 25., 28. November; 3., 6., 10. Dezember 2015.