Witold Gombrowicz’ Oeuvre bot einer ganzen Reihe von Komponisten optimale Musiktheater-Spielvorlagen, von Volker David Kirchners „Die Trauung“, bis hin zu „Operette“ in der Vertonung von Oscar Strasnoy. Der 1970 in Buenos Aires geborene Komponist, dessen Vater mit dem polnischen Exil-Dichter persönlich bekannt war, vertonte auch Gombrowicz’ Torso „Geschichte“. Die Berliner Inszenierung in der Werkstatt der Staatsoper wurde als ein echter Theatercoup gefeiert.
Vater, Mutter, Schwester und zwei Brüder von Witold, dem Querkopf, der sich trotz permanenter Versuche seiner Familie, ihn zu unterdrückten, nicht maßregeln lässt, sind die Personen dieser „Geschichte“ in der historischen Umbruchzeit der (Welt-)Geschichte, dem ersten Weltkrieg und der sterbenden Monarchie.
In seiner ausschließlich vokal, á cappella strukturierten Partitur beweist Oscar Strasnoy spezifischen Klangsinn: kurzweilig und reich an Witz, zwischen Parlando und melodramatischem Singsang und ariosen Soli, teils als Quartett oder Quintett geführt, wird sie durchbrochen von kurzen Tonbandzuspielungen – Zitaten aus Operetten des frühen 20. Jahrhunderts, von Kálmáns „Ich möchte träumen, von dir mein Puzikam“ als Zuspielung, oder der vokalen Integration von Oscar Straus’ „Olalala“.
Betritt der Zuschauer die Werkstatt für die Aufführung dieses Musiktheaters für sechs Sänger und Tonband, so befindet er sich in einem weißen Kasten mit elf ansteigenden Reihen zu je zehn Plätzen, von 9 Leuchtröhren gleißend hell erleuchtet. Die 4. Wand ist ein brillant deutlicher Komplettspiegel, in dem alle Zuschauer gezwungen sind, ihre eigenen Reaktionen zu erleben. So auch – in der dritten Reihe – der Komponist, mit anfangs angespannten, dann sich mehr und mehr lockernden und ebenfalls von Spiel und Gesang mitreißen lassenden Gesichtszügen.
Da die sechs Solisten – gemeinsam mit dem Publikum – ständig frontal in den Spiegel schauen, sind sie zwangsläufig absolut synchron in der Musik, wie – wenn dies geboten ist – in ihrer Gestik. So bedürfen sie keines Dirigenten. Max Renne sitzt inmitten der Zuschauer auf der Empore und outet sich als musikalischer Leiter erst beim Applaus.
Für das Premierenpublikum stellte sich die bange Frage, ob diese Raumlösung des Gesamtausstatters Christoph Ernst als Konzept für die vier Akte des Abends tragfähig sei. Den Beweis hat die Regisseurin Isabel Ostermann, gestützt auf eine in Spiel und Gesang überdurchschnittliche Sängerbesetzung, voll erbracht. Sie verzichtet dabei auf Äußerlichkeiten, wie die Barfüßigkeit Witolds, dessen Aufbegehren gegen Familie und Gesellschaft sich in dieser Handlung zunächst in der Weigerung, Schuhe zu tragen, äußert.
Die psychotischen Familienmitglieder singen und grimassieren im ersten Akt nur von ihren Sitzen aus, und das Sorgenkind Witold scheint anfangs zu schlafen. Dann begibt er sich außerhalb seiner Reihe, dehnt die frontale Spiegelfläche zu einem Zerrspiegel und kriecht einem Zuschauer in der ersten Reihe zwischen die Beine. Später bewegen sich auch seine Eltern und Geschwister von ihren Sitzen quer durchs Publikum, die Schwester Rena (die Mezzosopranistin Friederike Harmsen) und Bruder Jerzy (der Tenor Noriyuki Sawabo) um auf einem Stuhl zu kopulieren, die hypochondrische Mutter, um zunächst den Vater oral zu befriedigen um dann, mit samenverschmiertem Gesicht, auch über einige Besucher herzufallen. Der in seinen Aussagen radikal strukturierte Bruder Janusz (Bariton Manfred Gerke) wirft ein Ei an die Wand, dessen flüssige Innereien und Schalen dann an den Spiegel klatschen und auch einige Zuschauer bespritzen. Als groteske Steigerung verwandeln sich die Protagonisten mit Karnevalskostümen in die russische Zarenfamilie, Bruder Jerzy in die Rolle des schwulen Grafen Eulenberg. Die Sopranistin Sarah Maria Sun verkörpert die Mutter hier bereits in der zweiten Inszenierung, köstlich exaltiert auch als russische Zarin. Hinreißend karikiert der Bassist Markus Hollop in der Rolle des Vaters mit unterschiedlichen Akzenten und Dialekten die diversen gekrönten Häupter der Geschichte. Den Vogel aber schießt erneut Witold selbst ab, nun als Friedens-Abgesandter beim Deutschen Kaiser Wilhelm II. Countertenor Daniel Gloger, der bereits die Uraufführung dieser Oper, 2004 in Stuttgart und vor vier Monaten auch bei der Inszenierung in Zürich verkörpert hat, ist in seinem exzentrischen Spiel, wie in seiner bruchlos gleitenden Stimmführung von Männerstimme zur Sopranlage, für Strasnoys bunte Mischung aus Deklamation, Mehrstimmigkeit, Parlando und Sprechen ein Glücksfall.
Nur zwei Zuschauer hatten den Saal vorzeitig verlassen – wohl aus musikalischen Gründen, denn das extreme Spiel hatte noch nicht begonnen. Die anderen aber ließen sich – an den Gesichtern im Spiegel deutlich ablesbar – voll ins Spiel und in die skurrilen Gesänge hineinziehen, und manche hätten wohl am liebsten in diese Geschichte als Historie vokal mit eingestimmt. Nach langem Schweigen der Ergriffenheit am Ende der grotesken á cappella-Operette setzte heftiger Applaus mit Bravorufen für alle Beteiligten ein.
Ein geglückter, verheißungsvoller Saisonstart an der Staatsoper!
- Weitere Aufführungen: 1., 9., 10. und 12. Oktober 2015