Wäre diese Premiere noch unter der Intendanz von Kirsten Harms erfolgt, so hätte auch bei einer als konzertante Oper angekündigten Produktion eine halbszenische Realisierung stattgefunden, wie etwa bei Waltershausens „Oberst Chabert“, bei dem sogar noch die jüngst erschienene CD (cpo 777 619-2) von jener im Vorjahr aufgebotenen szenischen Intensität kündet. Gleichwohl wurde – wie unlängst die Vorbild-Oper„Norma“ in der Staatsoper – auch Bizets 1863 in Paris uraufgeführte Oper „Les Pêcheurs de perles“ an der Deutschen Oper Berlin vom Opernpublikum heftig gefeiert.
Nur vier Solisten, Chor und Ballett verlangt die auf Ceylon spielende Handlung einer brahmanischen Priesterin mit keuschem, aber gefühlsintensivem Vorleben. Die Freunde Nadir und Zunga, bereits in der Jugend von der verschleierten Priesterin Leila gleichermaßen fasziniert, hatten sich Enthaltsamkeit geschworen, um ihrer beider Freundschaft nie durch die Rivalität um die Frau in Frage zu stellen. Zunga, der heute König ist, wurde von Leila – ohne sie zu erkennen – einmal aus Lebensgefahr errettet, Nadir hat den Freundschaftsschwur gebrochen und die Priesterin bereits einmal aufgesucht. Die Dreiecksbeziehung endet mit einem Happy End für das Liebespaar, aber mit einem brennenden Fiasko für die titelgebende Gesellschaft der Perlenfischer. Nachdem Großpriester Nourabad das Paar Leila und Nadir in flagranti erwischt hat und beide zum Tode verurteilt sind, wird Zunga aus Dankbarkeit und Freundschaft zum Brandstifter und ermöglicht durch die Katastrophe dem Liebespaar die Flucht.
Das Libretto von Eugène Cormon und Michel Florentin Carré, rund um Inselkultur, Wassergeister-Beschwörung, Vertrag und Eid, Liebe und Feuer, basiert auf dem Handlungsmotiv der ungetreuen Priesterin, welches sich von Bellinis „Norma“ und Spontinis „Vestalin“ herleitet und dann in der französischen Oper auch noch in Saint-Saëns’ „Samson und Dalila“ gespiegelt wird.
Der Schluss der Oper, als unmoralisch im doppelten Sinne rezipiert, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrfach verändert, zumeist basierend auf einem nach Bizets Tod von Benjamin Godard nachkomponierten tragischen Schluss.
Musikdramaturgisch befindet sich Bizet mit seiner musikalischen Ausarbeitung gewissenlosen Liebesverlangens merklich auf dem Weg zur „Carmen“. Ein Haupteinfall wird in wagnerisch leitmotivischer Verarbeitung zu einem echten Opern-Ohrwurm, der sich von dem auch im Wunschkonzert häufig erklingenden Duett der Freunde im ersten Akt, bis zum letzten Erklingen des in eine glückliche Zukunft fliehenden Paares spannt: das Freundschaftsthema ist die tragende Säule dieser Partitur.
Leila ist hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Liebe, zwischen offiziellem Gesang und dem gesanglichen Ausdruck ihres persönlichen Empfindens, dem Natur-Ton, was in ihrer offiziellen Beschwörungsarie, mit dem „Beiseite“ ihrer privaten Hemisphäre eingeführt und dann konsequent durchgezogen wird. Die italienische Sopranistin Patrizia Ciofi klingt in tieferer Lage rauchig angeraut. Auch die Höhe kam zunächst angestrengt, dann aber immer freier, insbesondere in makellosen Koloraturketten. Ciofis intensives, gestisches Spiel liefert die Ahnung einer szenischen Umsetzung, wobei ihre fragenden Blicke zum Großpriester Nourabad sich zu Einaktern weiten.
Der Bassist Ante Jerkunica aus dem Ensemble der Deutschen Oper fügt sich als Nourabad gut in die Starbesetzung ein. Wohl timbriert und mit Schmelz kehrt der kanadische Bariton Étienne Dupuis das humane Wesen und die alles bestimmende Freundschaft des Inselherrschers hervor. Der unbestrittene Star aber ist Joseph Calleja, dessen makellose Gesangskultur ohne merkliche Registerwechsel und mit voller Kopfstimme den Nadir zum Erlebnis macht. Alle bestimmende Exotik der Musik versinkt angesichts der Leidenschaftlichkeit des liebenden Paares, obgleich die für die Entstehungszeit kühnen klanglichen Besonderheiten den besonderen Reiz der Partitur ausmachen.
Die arbeitet Guillermo Garcia Calvo mit dem bestens disponierten Orchester der Deutschen Oper Berlin Bizets effektvolle heraus, badend im orientalisches Kolorit. Das Duo von Solo-Bratsche und Solo-Violine lässt der Dirigent breit entfalten und vertraut der natürlichen Musikalität der Ausführenden, wenn er den zwischen 12/8 und 9/8 wechselnden Gesang Nadirs zur Harfe hinter der Szene undirigiert lässt. Trotz Eingehens auf die Individualitäten der Solisten bleibt Calvo doch stets dominanter Ausdeuter der Partitur.
Auf die diversen alternativen Schlüsse, die bisweilen mit einander collagiert wurden, verzichtet die mit reduzierten Übertiteln unterstützte Berliner Aufführung und bekennt sich zu dem – wenn auch extrem knappen – unmoralischen lieto fine des Originals.
Ursprünglich sollte an dieser Spielplanposition Donizettis „La favorita“ mit Elina Garanca erklingen, die das Projekt jedoch aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes abgesagt hat. Das Ersatzstück ist mehr als ein Lückenbüßer: das Publikum feierte die Premiere bereits jeweils nach Ende der einzelnen Nummern, bisweilen auch noch vor deren Verklingen, heftig. Auch der von William Spaulding präzise einstudierte Chor der Deutschen Oper erhielt nach dem musikalisch in sich abgeschlossenen, exotisch koloristischen Chorsatz im dritten Akt lang anhaltenden Extraapplaus mit Bravorufen.
Weitere Aufführung: 22. 12. 2011.
Ausstrahlung in Deutschlandradio Kultur: 25. 2. 2012.