Es ehrt Marko Nikodijevic, dass er mit seiner Auftragsarbeit für die Münchner Musiktheater-Biennale und das koproduzierende Braunschweiger Staatstheater seinen 1983 ermordeten Komponistenkollegen Claude Vivier in den Mittelpunkt und sich selbst damit ein Stück weit in den Hintergrund gestellt hat. Bedauerlicherweise ist damit das positivste, was man über die erste Uraufführung der 14. Biennale-Ausgabe vermelden kann, auch schon gesagt.
Das Leben des kanadischen Komponisten Claude Vivier – das haben Nikodijevic und sein Librettist Gunther Geltinger richtig erkannt – birgt den Stoff für eine Operntragödie in sich: Von den leiblichen Eltern im Stich gelassen, wächst Vivier als Adoptivkind auf, wird sich im katholischen Internat seiner Homosexualität bewusst und folgt nach dem Rauswurf aus dem Priesterseminar seiner zweiten Berufung: der Musik. Am Ende eines kurzen, exzessiven Lebens wird er in Paris von einem Stricher mit zahllosen Messerstichen getötet. Als unvollendetes Werk hinterlässt er eine Kantate, die eben diesen gewaltsamen Tod auf gespenstische Weise vorausahnt.
Als „Nachtprotokoll“ – so der Untertitel der Kammeroper „Vivier“ – haben Geltinger und Nikodijevic dieses Künstlerdrama angelegt. Die Mordnacht dient als Rahmen, von der aus zu traumartigen Szenen aus Viviers Leben und Schaffen zurückgeblendet wird: Peter Tschaikowsky, über den Vivier eine Oper zu schreiben plante, tritt im Kreis junger Liebhaber auf; im Priesterseminar begegnet Vivier dem Objekt seiner Liebes- und Todessehnsucht in Gestalt des Hl. Sebastian; eine Marco-Polo-Szene spielt auf Viviers Asienreisen (und sein Streichorchesterwerk „Zipangu“) an; ein Wiegenlied kündet von Viviers lebenslanger Suche nach der leiblichen Mutter.
All das hat Gunther Geltinger in geschmeidige, häufig gereimte Verse von überschaubarem Reflexionsniveau gefasst. Da unklar bleibt, ob eine ironische Distanzierung intendiert ist, bleibt der Eindruck unfreiwilliger Komik vorherrschend. Mit einer kompromisslos die emotionalen Ausnahmezustände der Künstlerfigur Vivier ausleuchtenden Musiksprache hätte Marko Nikodijevic die prekäre Szenerie möglicherweise retten, eine existenzielle Dringlichkeit erfahrbar machen können.
Stattdessen versucht er anfangs, mit einsamen Linien über sparsamer Begleitung Viviers Meisterschaft im Ausspinnen expressiver Melodien heraufzubeschwören, um sich dann zunehmend in dürftige Stilallusionen zu flüchten: Über der Tschaikowsky-Szene schwebt ein Walzer aus dessen „Dornröschen“, die Seminaristen stimmen eine Als-ob-Gregorianik an, im fernen „Cipangu“ wird europäische Renaissancemusik gepflegt. Vom vielgestaltigen Trauergestus aus Nikodijevics 2012 vollendeter instrumentaler Vivier-Hommage („chambre de ténèbres/tombeau de claude vivier“) ist kaum etwas zu spüren.
Merkwürdig kraftlos sind auch die rhythmischen Zuspitzungen geraten: Die aus dem Graben kommenden Sprechchöre holpern statt zuzubeißen, die Rap-Anspielungen in der Pariser Metro bleiben ebenso zahm wie die finale, die intendierte Wucht von Technobeats verfehlende Steigerung. Daran hätte wohl auch ein härteres Zupacken seitens der Mitglieder des Braunschweiger Staatsorchesters unter der Leitung Sebastian Beckedorfs nicht viel ändern können. Das dunkle Timbre der ohne Violinen auskommenden Instrumentierung bringen sie ansonsten angemessen zur Geltung.
Leider ist Regisseurin Lotte de Beer an der – zugegebenermaßen heiklen – Aufgabe gescheitert, den im Libretto angelegten Schwulenklischees mit einer eigenständigen szenischen Bildsprache zu entgehen. Die angedeutete Comic-Ästhetik – in Frankreich gilt die „bande dessinée“ schon lange als Kunstform – hätte viel konsequenter und verstörender eingesetzt werden müssen, um eine distanzierende Wirkung entfalten zu können. So muss der bemitleidenswerte Countertenor Tim Severloh, der sich wacker durch die anspruchsvolle Partie arbeitet, den ganzen Abend lang als Vivier-Lookalike in dessen modischem Markenzeichen, einer Lammfelljacke, über die Bühne stolpern, nicht ohne natürlich seinen Doubles in verschiedenen Lebensaltern zu begegnen…
So bleibt nach dieser trotz einer engagierten Ensembleleistung einigermaßen verunglückten Hommage eigentlich nur die Sehnsucht nach Viviers großartiger Musik. Gut, dass die Biennale diese in ihrem Rahmenprogramm stillen wird: mit der Aufführung seiner Oper „Kopernikus“ (eine Produktion der Musikhochschule am 11., 12. und 14. Mai) und zwei Konzertaufführungen („Zipangu“ mit dem Münchner Kammerorchester am 15. Mai und „Wo bist Du, Licht!“ am 16. Mai im Rahmen eines „Paradisi Gloria“-Konzerts des Münchner Rundfunkorchesters).
Weitere Aufführungen von „Vivier. Ein Nachtprotokoll“: 9., 10. Mai, Muffathalle München sowie 15., 22., 31. Mai und 1.,4. Juni, Staatstheater Braunschweig
Rundfunkübertragung auf BR-Klassik: 8. Juli, 20:03 Uhr