Leipzig als Kulturstadt, Leipzig als Stadt eines selbstbewussten und kunstsinnigen Bürgertums, Leipzig auch als politische Stadt hätte Grund mehr als genug für jede Form der Wiedergutmachung am „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Diese Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill ist 1930 unter skandalösen Bedingungen am Neuen Theater uraufgeführt worden, es gab sie 1967 ein weiteres Mal in der Regie des damaligen Operndirektors Joachim Herz am Kleinen Haus und es gibt seit wenigen Tagen eine Neuinszenierung, die binnen dreier Wochen erarbeitet worden sein soll.
Atlantis, Herakleion, Vineta – versunken, alles versunken. An Mahagonny arbeiten wir noch. Für dieses globale Städtebaukonstrukt – niemand weiß so genau, ob es wirklich nur nordamerikanischen Ursprungs ist – werden Rettungsschirme gespannt, Schuldentürme errichtet und rund um die Uhr Werte vernichtet. Der Tanz auf dem Vulkan ist längst gesellschaftsfähig. Und das Eis kann noch so dünn sein, es wird mit Anlauf und Absicht drauf gesprungen. Schlittschuhlaufen auf dem Haifischbecken.
Nun ist widersinniges Verhalten gewiss keine Erfindung von Menschen der Jetztzeit. Immer mal wieder hat es Kassandra-Rufe gegeben, die belacht wurden und ungehört verhallten. Propheten, Warner und Visionäre wurden an Kreuze geschlagen, als unreif abgetan oder als reif für die Psychiatrie erklärt. Manche gaben auch von selber klein bei. Und doch wird bei ausbrechender Goldgräberstimmung immer wieder alle Vernunft über den Haufen geworfen, wird auf ewiges Wachstum gesetzt. Nach uns die Flut, heißt es meist lapidar, wenn sich wiedermal abzeichnet, dass nach einem Aufstieg der umso tiefere Fall erfolgt.
Erst das Vergnügen, dann folgt der Absturz
Der ach so widerspruchsvolle Moralist Bertolt Brecht hat diese Kreisläufe klug analysiert und in mehreren seiner Stücke dargestellt. Wohl nirgendwo ist ihm das so abgründig bitter gelungen wie in der gemeinsam mit Kurt Weil verfassten Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Die wurde im März 1930 in Leipzig uraufgeführt, als die braune Pest des 20. Jahrhunderts, von deren Heraufdräuen später niemand was gewusst haben wollte, in ganz Deutschland schon kräftig Zulauf erfuhr. Eine Menge Nazis und Mitläufer sollen es gewesen sein, die im Neuen Theater der Messestadt mit lautstarken Störmanövern gegen die Premiere protestierte. Dreizehn Jahre später lag das Haus in Schutt und Asche …
Theaterdonner statt Wiedergutmachung
Obwohl die auf dem gleichnamigen Songspiel von 1927 basierende Oper von Brecht und Weill in der Nachkriegszeit zu einem in aller Welt gefeierten Erfolgsstück wurde, hat sich Leipzig mit der „Mahagonny“-Rezeption schwergetan. Folglich waren die Erwartungen groß, als nun endlich eine Neuinszenierung angekündigt war. Schon während der Proben tönte freilich mal wieder mehr Theaterdonner als Premierenvorfreude aus Leipzig. Intendant Ulf Schirmer hatte Gastregisseur Tobias Kratzer verabschiedet – „aus künstlerischen Gründen und in beiderseitigem Einvernehmen“, wie es bei solchen Anlässen immer so schön heißt. Kratzer darf sich hoher Anerkennung eines Peter Konwitschny erfreuen, und der war bis vor kurzem (nmz 23.12.2011) Chefregisseur der Oper Leipzig. Es bliebe zu deuteln, wie unverträglich die künstlerischen Handschriften von Konwitschny und Kratzer mit dem derzeitigen Geist des Hauses sind.
Doch statt im Kaffeesatz zu lesen, konnte zum geplanten Premierentermin die Inszenierung von Kerstin Polenske besichtigt werden. Etwa drei Wochen, nachdem sie die Verantwortung für Regie und Choreografie übernommen hatte! Ein Kraftakt, der erst einmal Respekt verdient. Zumal sie in Leipzig bereits mit Weills „One Touch of Venus“ und Gershwins „Crazy for You“ zu reüssieren vermochte.
Eine Wiedergutmachung an Brecht, Weill und der ganzen Mahagonny-Bande hätte jedoch anders aussehen müssen, gerade in Leipzig! Auf mäßigem bis gediegenem Niveau wurde die beträchtliche Personage über die Bühne bewegt und farbenprächtig vor spärlich ausgestattetem Schwarz arrangiert. Insbesondere die Handarbeiten von Chor und Komparsen sollten wohl Ausdruck des Choreografischen sein. Die vermutlich wegen der kurzen Frist magere Bühne – von Steffen Böttcher, dem Technischen Direktor des Hauses, in Zusammenarbeit mit der Regisseurin entwickelt – beinhaltete einen Vorhang, der immer mal die Sicht auf Wellenvideos, Hurrikanwarnungen und Textzeilen („Du darfst“) freigab.
Ein mittelgroßes Gestell mit umlaufender Reling diente mancherlei herausragenden Auftritten und Abgängen, knallrote Kontraste setzten Automobil, Mobiliar und Gitterkäfig, die bei Bedarf aus der Unterbühne auftauchten und dort auch wieder verschwanden. Mit dem angedeuteten Fahrzeug flohen Witwe Begbick, „Prokurist“ Fatty und Dreieinigkeitsmoses vor den Constablern, am Ort einer Panne gründeten sie das sagenhafte Mahagonny, hinter die Gitterstäbe im Stil mittelalterlicher Pranger kam Jim Mahoney „wegen Mangel an Geld, was das größte Verbrechen ist.“ Um bei der Optik zu bleiben: Ingo Krügler griff tief in die Klamottenkiste und zauberte Schlipse zu Strickjacken, Petticoats zu Autoschieber-Blusons hervor. Kaum anzunehmen, dass diese Billig-Outfits die Kosten fürs ursprüngliche Bühnenbild von Jo Schramm aufwiegen konnten.
Keine goldgeile Gemeinschaft
Ach ja, es geht ums Geld in Leipzig / Mahagonny. Die Begbick hält ihre Taschen auf und will kassieren, Fatty rechnet kleinlich nach, die Goldgräber sind spendabel, während von den Huren die Grätsche gemacht wird. Tenor Martin Petzold gibt eine nahezu halslos unterwürfige Charakterrolle des „Prokuristen“, der er auch stimmlich eine individuelle Note zu verleihen vermag. Jürgen Kurth als Dreieinigkeitsmoses spielt im schwarzen Anzug noch steifer als sein Sprechgesang tönt, die Begbick der Karin Lovelius ist so schrill überzeichnet wie sie in Spitzentönen auch klingt.
Herausragend hingegen gestaltet Soula Parassidis die Jenny, der sowohl stimmlich als auch spielerisch jene Energie zuteil wird, mit der eine „Mahagonny“-Oper mindestens ausgestattet sein müsste. Und zwar durchgehend! Doch schon Stefan Vinke als Jim Mahoney fällt da aufgrund seiner mehr behaupteten als gestalteten Präsenz spürbar ab, wenngleich er vokal aus der gesamten Herrenriege anerkennenswert herausstach.
Auch der von Stefan Bilz gut vorbereitete Opernchor sang sich prächtig durch den Abend, blieb darstellerisch aber auf Gruppenbild reduziert. Herrlich durcheinander hingegen die Mädchen von Mahagonny – die eine lasziv, die nächste klösterlich, die dritte wie aus dem Schülerinneninternat –, aber hätten nicht gerade sie eine goldgeile Gemeinschaft abgeben müssen? Womöglich wäre dann der Kontrast zum Nachrichtensprecher, der über den herannahenden Hurrikan verschnarchter als alle Tagesschau- und Heute-Sendungen zusammen informierte, noch lächerlicher ausgefallen.
Was mag einen Intendanten bewegen, solch eine halbgare Produktion zur Premiere zuzulassen, nachdem er die künstlerischen Unstimmigkeiten mit dem ursprünglichen Regieteam erst im laufenden Probenprozess erkannt haben will? In diesem Fall könnte das die Personalunion von Intendant und Generalmusikdirektor sein, denn Ulf Schirmer am Pult des Gewandhausorchesters gelang eine formidable Gestaltung dieser mitunter zur Jazzoper verklärten Partitur. Von kleineren Holpern zwischen Bühne und Graben einmal abgesehen, darf die musikalische Umsetzung als empfehlenswert gelten. Schon zur zweiten Vorstellung allerdings leitet Gastdirigent William Lacey Leipzigs „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“.
Termine: 3., 6., 12., 19. Mai 2012