Als einstens Karl Kraus sein facettenreiches „Wien bleibt Wien“-Bonmot formulierte, war das nicht eben Ausdruck von blinder Liebe sondern Ergebnis kritischer, aus der Distanz heraus analysierender Zuneigung. Nur die ist ja zu wahrer Liebe fähig. (Wobei das Analytisch-Distanzierende dem Wienerischen an sich ja so gar nicht immer wesensgleich eingeschrieben ist bei all seiner Sehnsucht nach dem harmonisch sich Fügenden…). Und dass das als Drohung gar gemeint hätte sein können, wollte den meisten Weltstadt-Wienern schon überhaupt nicht in den Sinn.
Denen ging es darum, dass möglichst nichts verändert werde und würde, dass alles so bliebe und bleibe, wie es immer schon war. Denn Fortschritt ist ein Schritt vom Angestammten fort in ungewohntes und unüberschaubares Terrain hinein. Das eben sollte (es) gerade nicht sein. Denn das Traditionelle ist in Wien bis heute hoch angesehen. Den Part, der auf Veränderung drängenden Zeitgenossen überlässt die kakanische Mentalität auch heute noch gern den bayerischen und preußischen Piefkes. Gerade aus dieser Gemengelage heraus aber ist und bleibt des kleinen Österreichs riesige Metropolhauptstadt eines der interessantesten und facettenreichsten und – im Geiste aller ortstypischen Nekrophilie – stadtraummäßig erschließungswürdigsten Territorien weltweit.
Was dem Wiener gefällt. Ist doch das Stadtbild geprägt von Riesenschwärmen asiatischer Fahnenfolger, vom prallen Theaterleben auf dem Asphalt, vor jugenstiligen Klimts und Schieles, zwischen Kaiserkronen und Reichsornaten und weithin ungestört von zeitgenössisch prägenden Architekturexperimenten. Auch heute durchwuselt vom Stimmengewirr multikultureller Weit- und Weltläufigkeit, wie sie ein Reich charakterisierte, in dem die Sonne zuweilen nicht unterzugehen vermochte. Diese Nähe zu Leben und Tod, zu Lust und Leid, zu Sünde und Beichte, zu lichter Farbenfreude und düsterer Kirchenraumcharakteristik, zu hinterfotziger Liebenswürdigkeit mit unsichtbar gezücktem Messer ist von phänomenaler Musikalität und Theaterhaltigkeit, von Kasperles Kapriolen bis in die Weihestätte Burgtheater mit seinen Satelliten hinein.
Ein spontanes Vorbeischauen bestätigt die Saga vom Weltspitzentheater, wo die schauspielernden Leute auch ohne am Backenknochen angeklebte Mikrophone deutlich artikulierend von leisesten Zwischentönen bis ins Dramatische hinein sich steigernd über die Rampe kommen (anders als zwischen Berlin und München). In Wien, wo kein Elektronikbeleuchtungsschnickschnack zur Verbergung allseitiger Schwächen erforderlich ist, wo nicht die Filmwirtschaft ihre Professionalität auf den Bühnenhintergrund projizieren muss zur Ablenkung von Muskel- und Artikulationsschwund auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Da wo das in der Schauspielschule Gelernte längst zur großen Freiheit des wahrhaftig Darstellenden hin erwachsen geworden ist, spielerisch und aussprachetechnisch.
Die Szenenfolge Zwischenfälle – Szenen von Daniil Charms, Georges Courteline und Pierre Henri Cami in der unvergleichlichen Anordnung der Andrea Breth zieht volle drei Stunden fünfzehn in Bann im Bogen einer dramaturgischen Spannung, in einem Bilderbogen einzelner Dramaturgiemomente zwischen wenigen Sekunden und wenigen Minuten Dauer, die aus dem Leben gewonnen, ihm abgetrotzt, dem eigenen (Er)Leben durchaus hilfreich im Erkenntnisprozess zur Seite stehen. Bis hin zu einer Szene aus den Weiten der Neuen Musik, kritisch, ironisch, gnadenlos. Doch frei von Häme, Verrat, Niederträchtigkeit. Ohne Umbaupausen nach Art einer phänomenal glitzernden Perlenkette und mit sparsamster, filigraner, intelligenter Musik (Sounddesign: Alexander Nefzger), die einem nicht die Emotion aufdrängt. Nein, diese Musik navigiert beim Denken und beim Empfinden, vertieft, erhöht, überhöht, holt auf den Boden zurück. Leistet das, was reales (und nicht abgefilmtes) Theater zum unvergleichlichen Erlebnis macht. Inmitten von zehn Schauspielern, von denen jeder rund zehn Rollen spielt.
Und die gehen wie die einzelnen Szenen nahtlos vollkommen stringent und total authentisch ineinander über, gehalten von einer nahezu genialen Bühnentechnik frei von Umbaupausen. Nebelschwaden assoziierende, Gazeartige, Portalfüllende graue fast transparente sekundenweise aufziehende und wieder verschwindende Vorhänge geleiten durchs (Theater)Leben. Grandios geführte Technik spielt sich nicht auf im Vordergrund, dient dem Theater. Und dann steht der Mensch wieder draußen vor dem Akademietheater, reibt sich Augen und Ohren, hält den Kopf zwischen den Händen und ist sich wieder selbst überlassen. Doch um Einsichtenschichten reicher. So, wie Theater seiner Bestimmung nach zu sein hat. Nicht als Werbeabteilung für eitle Schauspieler und Regisseure. Klar. Ohne ein gerüttelt Maß an Ego geht nichts auf der Bühne. Aber: Theater ist nicht in erster Linie eine egomanische Solisten-Austellungs-Aufstellung. Sondern schon zuallererst Gemeinschaftsleistung. Denkt der in den nächtlichen Abendhimmel Wiens Hineinsinnierende vor dem Akademietheater.
Jetzt wird noch eine Doppel-CD aus dem Hause mitgenommen: die einzigartig-wienerische Scheibe von Michel Heltau und den Wiener Theatermusikern: „I brauch kann Pflanz“. (Und da lässt sich im sprach-aufklärerischen Booklet gleich ganz genau nachlesen: „Pflanz“: Fopperei, Täuschung; an Pflanz treiben: übertriebenen oder luxuriösen Aufwand treiben). Hier wird der Aufwand getrieben, den Musikalität und Gescheitheit einfordern. Auf der Bühne, im Live-Mitschnitt. Die klar artikulierte, stimmtechnisch facettenreich Einblick ins literarisch-psychologische-(Wiener)-Lied-Leben gewährende Text-Melodie-Revue changiert zwischen Frankreich und Hollywood, deckt das Terrain ab von Wien-Kaiser-Reich-Zentrum bis WienZentralfriedhofsNekrophilie. Vienna At It´s Really Best halt. Nein, Heltau und seine unglaublich subtilen Musikerkollegen in ihrer unverwechselbar, unaustauschbaren, unwieder-bringlichen Wiener Schmnäh-Charme-Melange nah dran am Lebendigen. Wien zwischen Stillstand und Innovation. Wien im Reinen und im Einklang mit sich selbst. Wien bleibt Wien...
Michael Heltau und die Wiener Theatermusiker
I BRAUCH KANN PFLANZ
Live-Mitschnitt aus dem Wiener Akademietheater 2010
Preiser Records 2011
PR 91186 - CD eins und zwei - LC 00992