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Der Chor des Augsburger Theaters in Nonos „Intolleranza 1960“. Foto: A.T. Schaefer
Der Chor des Augsburger Theaters in Nonos „Intolleranza 1960“. Foto: A.T. Schaefer
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Zeitloser Aufschrei gegen eine entmenschlichte Epoche: Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in Augsburg

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„Bessere Steuerzahler verdienen besseres Theater!“ Die Augsburger Aufführung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ beginnt schon vor dem Opernhaus mit einer ersten „szenischen Aktion“ – so Nonos Bezeichnung für sein politisch wie musikalisch kompromissloses, den Opernbegriff sprengendes Werk. Was die Demonstranten fordern, löst diese ebenso kraftvolle wie mutige Spielzeiteröffnung ein.

Nach einem langen Gang durch den sanierungsbedürftigen „Backstage“ des Theaters, vorbei an einer lebenden Skulptur nach Delacroix’ berühmtem Revolutionsgemälde, findet sich das Publikum direkt auf der Bühne wieder. Im Mittelpunkt das große, vor allem im Schlagwerk stark erweiterte Orchester. Ein Teil der Zuschauer steht noch zwischen den Chorsängern, als diese mit der ersten Szene einsetzen. Aus dieser räumlichen Unmittelbarkeit, aus der Nähe zu den förmlich aus den Theatereingeweiden heraus agierenden Darstellern resultiert auch im weiteren Verlauf eine atemberaubende szenisch-musikalische Intensität.

Regisseur Ludger Engels und sein Ausstatter Ric Schachtebeck tun gut daran, das ohnehin locker gefügte Handlungsgerüst rund um einen Heimat und Freiheit suchenden, dabei aber Ausbeutung, Unterdrückung und Folter erfahrenden Emigranten darüber hinaus nur anzudeuten. Ein 60er-Jahre-Küchentisch, an dem seine Frau ihn zurückzuhalten versucht, eine Acrylglasbox, in der ihn sein Peiniger mit gelben Farbbeuteln bewirft, Videos aus dem heutigen Augsburg: Die Balance aus einem die Entstehungszeit reflektierenden Rahmen und auf die Gegenwart verweisenden Elementen gelingt weitgehend.

Den von Katsiaryana Ihnatsyeva-Cadek bravourös einstudierten Chor führt Engels als eine demonstrierende oder seine verzweifelte Lage reflektierende Gruppe eigenständiger Individuen. Seine physische Präsenz, seine bewundernswerte Bewältigung der enorm schweren Partie bildet zusammen mit dem von Dirk Kaftan souverän zusammengehaltenen Orchesterapparat das Kraftzentrum der Aufführung, die am Ende des ersten Teils eine optisch eindringliche Wendung erfährt: Der eiserne Vorhang öffnet sich zum Zuschauerraum, der afghanische Künstler Adi Sayed Bahrami verwandelt ihn mit seinen Kalligraphien in einen utopischen Freiheitsort.

Die anschließende Pause ist dramaturgisch wenig zwingend, gibt aber einen ersten Eindruck davon, was Intendantin Juliane Votteler mit dem umfangreichen Begleitprogramm rund um diese Premiere in Augsburg an soziokultureller Kooperationskreativität ausgelöst hat – hier unter anderem mit einer hinter Bauzaungittern tafelnden Gruppe des Projekts Cosmopolis, einer seit zwei Jahren als „soziale Skulptur“ sich verstehenden Asylbewerberunterkunft.

Zurück im Zuschauerraum – ein Teil des Publikums bleibt wie zuvor auf der Bühne sitzen – schlägt die Stunde Sally du Randts. Als neue Gefährtin des heimat- und ruhelosen Protagonisten stimmt die Sopranistin einen mit aberwitzigen Intervallspreizungen gespickten Gesang von eigentümlicher, herber Schönheit an – trotz der überwältigenden Kontraste und Ausbrüche des ersten Teils die musikalisch wohl stärkste Passage. Aus dem vorbehaltlos ihren Rollen sich hingebenden Ensemble ragen überdies Mathias Schulz in der fast unsingbaren Hauptpartie und Vladislav Solodyagin als Gefolterter besonders heraus.

Dass der Chor am Ende unter Styroporschutt begraben auf der quer durchs Orchester ins Parkett führenden Rampe liegt, bleibt szenisch hinter der kargen Wucht des ersten Teils zurück. Verzichtbar ist auch das inszenierte Schickimicki-Publikum, das sich angesichts der neuerlichen Katastrophe nur kichernd abwendet. Zu diesem Zeitpunkt hat Nonos zeitloser Aufschrei gegen eine entmenschlichte Epoche seine Wirkung längst entfaltet: ein Triumph für das Augsburger Haus, eine Sternstunde der Stadttheater-Idee.

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