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„Zu viel, zu viel!“ Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen

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Joep van Lieshout, bildender Künstler und Architekt, hat ein Spätprodukt seiner einjährigen Freistaatsgründung AVL auf die Bühne des Festspielhauses gestellt, ein Ökosystem, welches den Bio-Kreislauf, über Nahrungsaufnahme, Verdauung und Verwertung zu Stoffen, aus denen wieder neues Essen und Trinken wird, symbolisiert. Unter dem geschlossenen AVL-System, nunmehr als „Wartburg“ bezeichnet, liegt das System des Venusberges, ein Käfig mit Mutanten, kopulierenden Affenmenschen, Schlange, Panther und drei Rochen als Grazien, rund um eine hochschwangere Venus. Bei der im Finale besungenen Erlösung reicht der rot gewandete Damenchor das Neugeborene der Venus herum: ein junger Tannhäuser.

Sebastian Baumgartens Inszenierung betont das Brechtische in Wagner. Da sich sein Plan eines Stegs zwischen Zuschauerraum und Bühne baulich nicht realisieren ließ, schafft nunmehr das während der Orchestervorspiele glimmende Licht im Zuschauerraum den Bogen zur Beleuchtung auf der Bühne, auf deren Seiten 50 Zuschauer platziert sind. Auch Baumgartens Vorhaben, diese Oper als Einakter ohne Pause – á la „Der fliegende Holländer“ und „Rheingold“ – zu spielen, ließ sich nicht verwirklichen. (Dem standen Verträge mit der Festspiel-Gastronomie und deren Anspruch auf zwei Pausen im Wege.)

Didaktische Text-Projektionen benennen im ersten Akt „Laichzeit“ und „Waidmanns Lust“ (beim Auftritt der Minnesänger auf Jagd), im zweiten Akt erfolgen allerlei Erklärungen zu Kunst, Nahrung, Treibstoff, Kraftnahrung, Stoffwechsel und Sublimierung. Dazu Stills und Videos einer nackten Frau im AVL (Andreas van Lieshout)-Maschinenpark und eine barbusige, mit den Füßen wippende Madonna.

Der Informationsfluss wird noch gesteigert in den beiden Pausen, in denen die Zuschauer im Festspielhaus das vorhanglose Geschehen weiter verfolgen sollen. Da werden Exkremente abgesaugt, wird Gemüse gewaschen, geschält, geschnitten und zu Suppe verarbeitet, wird Methan- und Biogas gewonnen. Nach dem 2. Akt feiern 20 Kleindarsteller eine systemimmanente Messe mit „Parsifal“-Zitaten, Bezügen zu de Sade und Lieshout, mit skandierten Tannhäuser-Exzerpten, einem Heine-Text auf Haydns Deutschlandlied-Melodie und Gebetsrefrains, wie „Wir machen nicht zu viel Design!“

„Zu viel, zu viel!“, möchte der Zuschauer dem Regieteam mit Tannhäusers ersten Worten zurufen. Dabei beherrscht Sebastian Baumgarten das Regie-Handwerk und kommt in seiner Personenführung immer wieder zu ungewöhnlichen Ergebnissen. Am deutlichsten wird dies an seiner Sicht der Elisabeth, die hier keine „keusche Jungfrau“, sondern eine komplizierte Exzentrikerin ist. Schmuckverliebt – als Ersatz für den zu lange abwesenden Partner – rückt die rot gewandete Draufgängerin Tannhäuser zu Leibe und verschwindet mit ihm für einen Quickie im Venusberg, der sich immer wieder, wie ein Phallus, in die Wartburg- Betriebshalle hebt; seine Oberfläche ist auch das Sängerpodest, auf das Tannhäuser aus einer Flasche und aus dem Mund protestierend seine Säfte ejakuliert. Im dritten Akt opfert Elsabeth ihren Schmuck im Verwertungsrotator, umarmt Wolfram, lehnt aber dessen Umarmung strikt ab und begibt sich zum Suizid in den Biogasbehälter. Offenbar wird sie dann doch gerettet, denn im Leichenzug mit den Mönchen Reinmar von Zweter und Heinrich der Schreiber wankt sie als tremolierendes Gespenst mit.

Hauptproblem dieser Inszenierung scheint die optisch dominierende Dramaturgie von Carl Hegemann, der auch Schlingensiefs „Parsifal“-Inszenierung betreut hat, aufgrund all zu vieler direkter Bezüge zu Schlingensief, von der Eröffnungs-Projektion von Lungenflügeln (wie auch in der Berliner Aufführung von Braunfels’ „Johanna“-Oper), den raschen grell farbigen Lichtwechseln im Venusberg und den Videos bakterieller Vorgänge.

Nach einer Unmenge von brechtischen Hinweisen wird am Ende jener Ausspruch Wagners projiziert, der auch bei Götz Friedrichs Berliner Inszenierung dieser Oper sinnstiftenden Bezug bildete: „Ich bin der Welt noch den Tannhäuser schuldig“. Hier aber liegt all zu nahe, dass die Bayreuther Neuinszenierung eine klar lesbare Deutung (vorerst) schuldig bleibt.

Nichts schuldig blieb Günther Groissböck in der Partie des Landgrafen, mit balsamischen Schmelz und heldischem Kern. Auch Michael Nagy als Wolfram verfügt über ein sehr angenehm timbriertes Organ mit einwandfreier Diktion und Stimmführung. Die Gruppe der weiteren Minnesänger, mit Lothar Odinius als Walther, Thomas Jesatko als Biterolf, Arnold Bezuyen als Heinrich und Martin Snell als Reinmar, runden sich zu einem trefflichen, quasi madrigal intonierenden Ensemble. Dramaturgisch als alkoholischer Youngster aufgewertet ist die stimmstarke Katja Stuber als Hirt.

Camilla Nylund als Elisabeth verblüfft neben faszinierendem Spiel durch ungewöhnliche Schattierungen und makellos tragende Piani; aber im Gebet hat sie auch Intonationsprobleme. Stephanie Friede als hochschwangere Venus, die im Sängerkrieg als leidlich geduldeter Gast zugegen ist und von Wolfram bei seinem Abendstern-Lied körperlich begehrt wird, ist eine stimmliche Fehlbesetzung; vom Publikum ausgebuht, erschien sie beim weiteren Applaus nicht mehr auf der Bühne.

Auch der schwedische Tenor Lars Cleveman als Tannhäuser musste Buhrufe einstecken; er bewältigt die Titelpartie, aber nur mit Kürzungen (eine Strophe im Venusberg ist ebenso gestrichen, wie ein großer Teil des Finales des 2. Aufzugs). Ungewöhnlich einhellig wurde das Regieteam mit massiven Buhrufen und Pfiffen empfangen. Zu Recht bejubelt wurde hingegen der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor, der nicht nur an Stimmgewalt, sondern auch darstellerisch voll überzeugt, etwa wenn die Pilger aus dem Container „Rom 451“ mit extremem Reinlichkeitsfimmel zurückkommen und sich dabei wie eine Schar von Robotern bewegen.

Ungewöhnlich und im besten Sinne neuartig ist Thomas Hengelbrocks musikalische Interpretation, die er aus einer Faksimile-Handschrift dirigiert, wofür – so die Festspielleitung in einer Pressekonferenz am Morgen der Eröffnung – das Dirigentenpult verbreitert werden musste. Wie der Dirigent jedoch im Programmheft bekennt, hätte er der Urfassung des Werkes mit jenem Schluss, in dem Venus nicht noch einmal erscheint – eine Fassung, die auch Wieland Wagner bevorzugt und in Stuttgart realisiert hat –, den Vorzug gegeben. Aber die Festspielleitung hat dem Dirigenten eine andere als die gängige Dresdener Fassung ausdrücklich untersagt.

Entgegen vielfacher Erwartung, verwendet Hengelbrock keine alten Instrumente. Er arbeitet die Kontrapunktik und Bassfiguren ungewöhnlich heraus und betont die rhythmische Struktur der Partitur mit eigenwilligen, dem Spiel gehorchenden Verzögerungen und gedehnten Generalpausen. Dass gleichwohl (noch) nicht alles zusammen klingt, mag der Bayreuther Akustik geschuldet sein. Aber Hengelbrock gelingt die bislang ungewöhnlichste Lesart dieser Partitur seit den Anfängen von Neubayreuth.

Die nächsten Aufführungen: 1., 7., 13., 19. und 25. August 2011

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