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Läuft die Zeit für die Kulturradios ab? Mauricio Kagel am 10. März 1960 im elektronischen Studio des WDR. Das Kulturradio WDR 3 feierte am 30. März 2024 seinen 60. Geburtstag – mit einem Geburtstagsprogramm von 6.00 bis 19.00 Uhr mit den 60 beliebtesten Klassik-Hits aus der Aktion „WDR 3 Ihre Klassik-Hits“ sowie mit Gesprächen und Geschichten zu 60 Jahren WDR 3. Foto: WDR

Läuft die Zeit für die Kulturradios ab? Mauricio Kagel am 10. März 1960 im elektronischen Studio des WDR. Das Kulturradio WDR 3 feierte am 30. März 2024 seinen 60. Geburtstag – mit einem Geburtstagsprogramm von 6.00 bis 19.00 Uhr mit den 60 beliebtesten Klassik-Hits aus der Aktion „WDR 3 Ihre Klassik-Hits“ sowie mit Gesprächen und Geschichten zu 60 Jahren WDR 3. Foto: WDR

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Apokalypse Now?

Untertitel
Schema, Auswirkungen, Absurditäten und Verluste der ARD-Reform · Von Rainer Nonnenmann
Vorspann / Teaser

Apokalyptiker prophezeiten schon vor fünfzehn Jahren, das gemeinsame ARD-Radiofestival sei lediglich der Versuchsballon für einen viel substanzielleren Umbau des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks (ÖRR). Seit 2009 schalten sich die Kulturradios der ARD von Anfang Juli bis Mitte September zusammen, um von 20 bis 24 Uhr ein einheitliches Abendprogramm sowie darüber hinaus mit dem ARD-Nachtkonzert bis 6 Uhr morgens auszustrahlen. NDR Kultur, WDR3 Kultur, hr2-kultur, SWR2, SR2 Kulturradio, rbbKultur und MDR Kultur übertragen seitdem im ganzen Bundesgebiet dasselbe Sommerabendprogramm mit Konzerten, Opern, Gesprächen, Lesungen. Der Bayerische Rundfunk beteiligte sich nur teilweise. Und Radio Bremen Zwei ist inzwischen kein Kulturradio mehr.

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Begründet wurde die Zusammenlegung mit notwendigen Einsparungen, erhofften Synergieeffekten sowie dem Abbau von Parallel- und Mehrfachstrukturen. Die aktuelle ARD-Reform setzt nun in großem Umfang fort, was seinerzeit begonnen wurde: zusätzlich zum weitergeführten sommerlichen Radiofestival werden nun ganzjährig alle ARD-Kulturradios an drei Abenden pro Woche zusammengeschaltet. Denn einmal mehr muss gespart werden. Auf Druck einiger Länder und Ministerpräsidenten kalkulierten die Sender schon in den vergangenen Jahren mit immer weniger Mitteln. Die von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten vorgeschlagenen Erhöhungen des Rundfunkbeitrags blieben dann unterhalb der Inflationsbereinigung. Während immer weniger Geld zur Verfügung stand, gab die ARD gleichzeitig immer mehr Geld für das Fernsehen aus, besonders für teure Übertragungsrechte für Sportveranstaltungen, Talksendungen, Serien sowie neue Sender wie phoenix, Alpha, tagesschau24 und ONE.

Ein Großteil des fast neun Milliarden Euro umfassenden Gesamtetats der ARD fließt ins Fernsehen. Der gesamte Hörfunk und einzelne Radiobereiche schlagen nur minimal zu Buche. Beispielsweise verfügen alle Redaktionen für Neue Musik und Jazz zusammen genommen – ohne Klangkörper, aber samt Festanstellungen – über jährlich nur etwa 2,5 Millionen Euro. Das sind 0,004 Prozent des Gesamt­etats. Andere Fachredaktionen, etwa für „Weltmusik“, wurden längst abgeschafft, obwohl gerade transkulturelle und transtraditionale Musik in unserer zunehmend migrantisch geprägten Gesellschaft immer wichtiger wird. Selbst eine Komplettstreichung all dieser Promille-Beträge wird die ARD nicht ansatzweise sanieren. Aber bereits Einsparungen von wenigen zehn- oder hunderttausend Euro zerstören ganze Kulturredaktionen. Und jetzt folgt die „Apokalypse Now“?

Schema

Ab 20. April wird jeweils eine Opernredaktion das Programm am Samstagabend zwischen 20 und 23 Uhr für alle übrigen Sender zusammenstellen. Den Anfang macht die gemeinsame Übertragung eines SWR-Mitschnitts von Strauss’ „Elektra“ bei den Osterfestspielen Baden-Baden. Ab September gibt es dann zusätzlich Montag und Mittwoch ein ARD-weites Abendprogramm mit Konzert, Jazz, Gesprächsformat und aktueller Kulturberichterstattung. Neue Musik ist an allen drei Abenden nicht vorgesehen, obwohl gerade diese einmal zur Kernaufgabe des ÖRR gehörte. Auch sonst gibt es kein Bekenntnis zu Weltoffenheit, Diversität, Experiment, Neuem, Kritik, Reflexion, ästhetischem Diskurs. Der Dienstag wird von bi- oder trilateralen Kooperationen bespielt, etwa dem Zusammenschluss aus SWR, HR und SR, wo die Neue Musik dann mit ein, höchstens zwei Stunden präsent sein wird. Freitag- wie Sonntagabend machen die Sender individuelle Programme wie bisher.

Statt acht Einzelprogrammen gibt es an drei Abenden fortan nur noch ein ARD-Einheitsprogramm. Rein rechnerisch braucht man dafür auch nur noch ein Achtel an Redaktionen, Produktionen, Moderationen, Studiotechnik, Autorinnen und Autoren. Die erhofften finanziellen Einsparungen werden jedoch vorerst ausbleiben, weil alle Festangestellten weiter bezahlt werden, auch wenn sie künftig weniger zu tun haben. Schon in der Vergangenheit wurden viele Stellen abgebaut, so dass manche Sender bereits jetzt keine Jazzredaktion, niemanden mehr für Globale Musik und nur noch halbe Stellen für Neue Musik haben. In einzelnen Sendern sollen schon jetzt lediglich ein oder zwei Festangestellte sämtliche Musikgenres abdecken. Und HR-Intendant Florian Hager kündigte in der FAZ an, dass in seinem Hause künftig nur noch jede fünfte altersbedingt frei werdende Stelle neu besetzt werde. Kurzfristig eingespart werden jetzt freiberufliche Studiotechniker, Journalistinnen, Moderatoren, Autorinnen. Und natürlich wird auf den fusionierten Abendstrecken viel weniger Kunst, Kultur, Musik gesendet. Dieser Verlust an öffentlicher Präsenz trifft die gesamte Kulturlandschaft, Produzierende ebenso wie Rezipierende.

Auswirkungen

Das Kulturprogramm des ÖRR verliert an regionaler Verankerung, Vielfalt, Breite, Substanz. Viele Nischenprogramme und individuelle Beiträge finden keinen Platz mehr. Das Einheitsprogramm straft den Slogan des WDR und anderer Landesanstalten Lügen: „Näher an den Menschen, näher an den Themen, näher an der Region“. Die Reform widerspricht zentralen Punkten der im Januar 2024 veröffentlichten „Empfehlungen“ des „Zukunftsrats“ der ARD. Gefordert wird darin eine klarere Unterscheidbarkeit des ÖRR von privatwirtschaftlichen Veranstaltern, Medienunternehmen und kommerziellen Marktlogiken. Zudem sollten Bürgernähe, regionale Veranstaltungen und Perspektiven gestärkt­ werden, weil sie ein wichtiges Fundament der freiheitlichen Demokratie darstellen.

Ferner plädiert der „Zukunftsrat“ für eine zentrale ARD-Anstalt als Dachorganisation aller Landesrundfunkanstalten, um deren Strategien und Finanzierung zu koordinieren, Mehrfachstrukturen abzubauen, und eine bundesweit einheitliche digitale Plattform für Mediatheken, Player, Podcasts, Streamings und Suchoptionen aufzubauen. Letzteres wäre höchst sinnvoll und käme der gewandelten Mediennutzung vor allem jüngerer Generationen entgegen. 

Doch der verstärkten Präsenz in Internet und Sozialen Medien fehlt bislang die rechtliche Grundlage. Denn die ARD hat es versäumt, für reine Online-Angebote die nötigen Urheber- und Leistungsschutzrechte auszuhandeln und die dafür womöglich aufzuwendenden mehrere hundert Millionen Euro einzuplanen. Selbst wenn der Hörfunk nun gemeinsame Podcasts für Neue Musik, Jazz und andere Musiknischen produziert, müssen diese nach den bisher gültigen Verträgen auch linear ausgestrahlt werden, wofür das Radio jedoch gerade die entsprechenden Sendeplätze abschafft.

Der Zukunftsrat lehnt die Zusammenlegung von Landesanstalten ab, nicht aber Einsparungen bei Klangkörpern. Beispielweise fordert schon jetzt der Koalitionsvertrag der neuen hessischen Landesregierung Gespräche mit dem HR über die Zukunft von dessen Sinfonieorchester und Bigband. Schließlich empfiehlt der Zukunftsrat die Einrichtung von „Kompetenzzentren“, die alle Anstalten mit bestimmten Genres versorgen. Dann kommt in Zukunft Neue Musik womöglich ganz vom SWR und Jazz nur noch von NDR oder WDR.

Verluste

Die Fachredaktionen für Oper, Klassik, Jazz, Neue Musik, Globale Musik, Elektronik, Akustische Kunst, Hörspiel und Literatur wurden schon in den letzten dreißig Jahren mit Stellenstreichungen und Etatkürzungen geschrumpft sowie durch neu eingezogene Hierarchien, Controller und Betriebsgesellschaften aus wellen- und programmrelevanten Planungs- und Entscheidungsprozessen gedrängt. Dabei liegt gerade hier die fachliche       Expertise, Kreativität, Offenheit, regionale Umsicht und Vernetzung mitKunst- und Kulturschaffenden. Nach allen bisherigen Umgestaltungen, Magazinierungen und Streichungen müssen die Kulturredaktionen nun erneut wider besseres Wissen eine Reform umsetzen, die ihre eigenen Sendeplätze vernichtet. Geklagt wird aber nur hinter vorgehaltener Hand: „Die Strukturen und Hierarchien der ARD wirken oft weniger transparent als bei den Geheimdiensten.“ „In jeder Anstalt gibt es inzwischen mehr Generäle als Soldaten“. „Eine einzige Folge einer Talksendung von Miosga oder Maischberger weniger könnte den Jahresetat einer Hörfunk-Kulturredaktion retten.“ – „Wo bleibt freier Journalismus, die vierte Gewalt, wenn intern institutionell alles geknebelt und jede Order von oben durchgeknüppelt wird? Und die Rundfunkräte jede noch so fragwürdige Entscheidung durchwinken?“ Öffentliche Stellungnahmen oder gar Protestnoten von ARD-weiten Redaktionstreffen gibt es jedoch keine, weil das arbeitsrechtliche Verträge untersagen. Die Angestellten bewahren Stillschweigen und setzen die angeordneten Fusionen um. Manche geben immerhin Auskunft, wollen aber namentlich nicht genannt werden. Allgemein herrscht Frustration und Resignation angesichts der Beschneidung des Musikangebots und der Kontakte zu Akteuren und Veranstaltern im Sendegebiet. Verliert das Radio seine Diskursivität, Vielstimmigkeit, Regionalität, soziale und kulturelle Durchlässigkeit, dann verschwinden diese auch im Land und bei den Menschen.

Absurditäten

Weitere Tücken liegen im Detail. Der BR soll den gemeinsamen Opernabend ausstrahlen, beginnt wegen längerer Nachrichten aber erst um 20.05 Uhr statt wie alle anderen Kulturradios um 20.03 Uhr, so dass für das gemeinsame Sendungsende um 23 Uhr jeweils noch zweiminütige Musikschnipselchen angehängt werden müssen. Außerdem wird der BR im Rahmen seines Mitschnittvertrags mit der Bayerischen Staatsoper die dort am Montag stattfindenden Premieren live senden und nicht am Opern-Samstag. Ebenso möchten andere Kulturradios vom ARD-Schema abweichen, um Premieren oder Festivals live zu senden. Probleme bereitet neben der Unterfinanzierung des Hörfunks auch die Bemessungsgrundlage des ARD-Proporz primär nach der Bevölkerungszahl des Sendegebiets. Der MDR verfügt deswegen über so wenige Mittel, dass er inzwischen alle seine Ü-Wagen verkauft hat und daher wichtige Veranstaltungen, Festivals und Premieren nicht mehr selbst aufzeichnen kann. Um das dortige Opern- und Musikschaffen dennoch abzubilden, springt vor allem der Deutschlandfunk ein, der nicht zur ARD gehört.

Es braucht keine Fantasie, um die aktuelle Reform für die Zukunft weiterzudenken: die drei ARD-Abende werden zur kompletten Woche ergänzt, die Abendstrecken schließlich auf die Nachmittage und endlich auf 24 Stunden ausgedehnt, bis nur noch ein Einheitssender übrig bleibt. Die Prediger des Untergangs des bislang vielstimmigen föderalen ÖRR werden dann Recht behalten haben.

 

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