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Töteralismus

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Hat das türkische Saz-Ensemble aus Berlin-Kreuzberg mit dem Fischbachauer Drei-Gsang menschlich betrachtet mehr gemein als die Bundesregierung mit dem Bayerischen Kabinett? Erstere treffen sich gelegentlich – zum Beispiel beim Weltmusikfest in Rudolstadt. Man hört sich zu, staunt vielleicht, lernt (sich kennen). Und pflegt weiter die eigene gewachsene kulturelle Identität. Etwas anders unsere Volksvertreter: Man trifft sich dauernd, wirft sich die wüstesten Beleidigungen an den Kopf. Und pflegt weiter die eigene gewachsene politische Identität. Dass dies zu Reibungsverlusten führt, die möglicherweise sogar comedygestählte Wähler nicht mehr hinnehmen mögen, liegt auf der Hand. Also gründet man, um die Kröte zu verpacken, eine spesenaufwändige „Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ – kurz und zweckorientiert „Föderalismus-Kommission“ genannt.

Das Ziel ist klar: Alle Kulturkompetenz soll wieder bei den Ländern landen. Nur ein paar „Leuchttürme“ – zum Beispiel „Elite-Unis“ und die üblichen Berliner Kulturmonumente erhalten zusammen mit den gängigen Markenartikeln bundesrepublikanischen Image-Exports noch ein bisschen Bundes-Dünger aus dem BKM oder dem Außenministerium.

Wissenschaft, Schule, außerschulische Bildungsmaßnahmen werden im wesentlichen von den Ländern bedient und gesteuert – Hildegard Bulmahn und Renate Schmidt schnallen ihre Gürtel engstmöglich. Auf der Strecke bleiben, wie es aussieht – sehr effektive bundesweit operierende Organisationen. Ein Requiem für den „Arbeitskreis Musik in der Jugend“, den „Internationalen Arbeitskreis Musik“ oder die „Jeunesses musicales“?

Um Kulturkompetenz wird gefeilscht. Also beschäftigt sich die Föderalismus-Kommission unter kostenschonender Vernachlässigung aller Inhalte mit dem heutzutage gesamtgesellschaftlich betrachtet einzig Wesentlichen: der Verteilung von Cash. Das wird sehr professionell verhandelt. Eingesetzt werden alle marktwirtschaftlich erprobten Raffinessen. Von geschickter Verzögerungstaktik über das souverän-föderal gespielte Gekränkt-Sein bis hin zur soliden Erpressung. Man verhackstückt Kultur und Bildung auf der Stilebene, mit dem Waffen-Arsenal aktueller Tagespolitik. Dagegen wirkt der gemeinsame Fischbachau-Kreuzberger Saz-Dreigesang ohne vorhergegangene Probe wie Beethovens Zehnte mit den Münchnern unter Celi.

In der aktuellen Ausgabe von „Politik und Kultur“ (www.puk-online.net) fordert Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber vollmundig aber dürr in der Headline „höchsten Stellenwert für die Kunst“ ein – und spricht 8.000 weitere Zeichen lang über Kostenverteilung und politische Machtverhältnisse. Es ist, als dirigiere Bundeskanzler Schröder künftig hauptamtlich die Berliner Philharmoniker mit einem Phaeton-Scheibenwischer statt Stab. Hat der bundesrepublikanische Bildungsnotstand vielleicht doch schon vor gut vierzig Jahren begonnen, als Stoiber und Schröder noch die Schulbank drückten?

Siehe auch:

Kulturpolitik. Europa – Herausforderung für den deutschen Föderalismus
Entscheidungsprozesse auf der europäischen Ebene gewinnen an Bedeutung · Von Olaf Zimmermann

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