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Titelseite der nmz 2021/04
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Wenn das kulturelle Erbe zum Fetisch wird

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Sind Musikinstitutionen Komplizen reaktionären und hegemonialen Denkens? · Von Fabien Lévy
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„Hat der klassische Orchesterbetrieb ein Rassismusproblem?“, fragten wir auf Seite 3 der Februarausgabe der nmz. Zu Wort kam in diesem Artikel unter anderem der Komponist Fabien Lévy. Seine grundsätzlichen Gedanken zur Begrenztheit des ‚klassischen‘ Musik- und Ausbildungsbetriebs und zu dessen Ausgrenzungsmechanismen hat der Professor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig für unsere Zeitung skizziert. Lesen Sie hier die gekürzte Druckversion seines Denkanstoßes. Die Langfassung ist unter www.nmz.de nachzulesen.

Als Publikum und Steuerzahler­*innen erscheint es uns normal, dass subventionierte Institutionen der Kunstproduktion wie Theater, Tanzkompanien oder Museen versuchen, sich durch ihre jeweils eigenen Repertoires und Praktiken voneinander zu unter-scheiden. Es erscheint uns normal, dass ihre Aufgabe darin besteht, den kulturellen Horizont ihres Publikums zu erweitern und ihre eigene Zeit samt ihrer Normen und Routinen grundlegend in Frage zu stellen. Es erscheint uns normal, dass manche Produktionen Video und Technologie nutzen. Im Zeitalter einer globalisierten Weltordnung erscheint es uns normal, dass sich künstlerische Produktionen anderen Ländern, anderen Kontinenten, anderen Kulturen und anderen Traditionen öffnen. Es er-scheint uns normal, dass diese Institutionen im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe aktuelle Kunst und Kultur fördern müssen, dass sie sowohl das etablierte Repertoire verteidigen als auch neue Künstler*innen entdecken und sich um einen erneuerten Kanon bemühen, der unterschiedliche Epochen sowie geographisch diverse Ursprünge umfasst. Ein Bereich entzieht sich je-doch dieser Logik: das Musikleben. Die Mehrzahl subventionierter Musikinstitutionen, das heißt die meis­ten großen Konzertsäle, Opernhäuser, Orchester und öffentlich-rechtlichen Sender produzieren und senden (bis auf wenige rühmliche Ausnahmen) in etwa dasselbe: ein begrenztes Repertoire von zirka vierzig Komponisten und einigen hundert Werken, die größtenteils zwischen 1750 und 1920 in Europa komponiert wurden. Ihre Programmgestaltung ist wenig ambitioniert und orientiert sich weder am Experiment noch an Spezialisierung oder Differenzierung (eine Ausnahme bilden Opernhäuser, die sich durch ihre oft spektakulären Inszenierungen, also die nicht-musikalische Dimension der Produktion, auszeichnen; diese Art der Innovation wird als normal angesehen).

Standardisierte Interpretationspraxis

Die Interpretationspraxis ist ebenso standardisiert: Auch wenn das Orches­ter größer geworden ist, haben sich seine räumliche Anordnung, seine Hie­rarchien und Verhaltensweisen, die unter dem „Ancien Régime“ mit Jean-Baptiste Lully eingeführt wurden, bis heute nicht verändert. Die meisten klassischen Musiker*innen werden sowohl während ihrer Ausbildung als auch da-nach nur selten mit elektronischen Technologien, mit neuen Spieltechniken oder der Einführung verwandter Instrumente – zum Beispiel aus anderen Kulturen – konfrontiert; auch improvisieren werden sie eher selten. Opernsänger*innen praktizieren kaum andere Gesangstechniken als jene, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts von Manuel García entwickelt wurden. Die meisten subventionierten Musikinstitutionen haben somit eine stark kodierte und eng am westlichen kulturellen Erbe ausgerichtete Instrumental- und Gesangspraxis, was zur Folge hat, dass sie im Gegensatz zu Theatern ein eher konservatives bürgerliches Publikum anziehen, das wenig geneigt ist, andere Repertoires, andere Autor*innen und andere Hörweisen zu entdecken.

Rückwärtsgewandte Ausbildung

Führen wir die Argumentation fort: Als Wähler*innen und Steuerzahler­*innen erscheint es uns normal, dass eine öffentliche Hochschule, ob künstlerisch, wissenschaftlich oder auch praktisch, ihr Fachgebiet sowohl überdenkt und hinterfragt, als auch Theorien und Praktiken von einer Generation zur nächsten weitergibt. Es erscheint uns normal, dass Studierende mit den fortschrittlichsten Theorien und Praktiken in Berührung kommen, auch mit solchen, die im Mainstream noch umstritten sind, und dass Dozierende sie anleiten, die neuesten Werkzeuge und Praktiken zu meistern, anstatt nur das weiterzugeben, was sie selbst einst gelernt haben. Die Aufgabe jeder Ausbildung ist es, Studierenden zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden sowie die Zukunft der Disziplin zu denken und zu modifizieren.

Auch hier weichen die Musikhochschulen größtenteils von dieser zentrifugalen Mission ab. Abteilungen für Alte Musik, zeitgenössische Musik, Jazz oder Ethnomusikologie und außereuropäische Musik sind je nach Bundesland selten und fast überall am Rande des pädagogischen Hauptbildungsprojekts angesiedelt. Instrumentalstudierende werden nur selten mit Improvisation, Uraufführungen, elektronischen und Studio-techniken, organologischer Modifikation ihres Instruments und mit ähnlichen Instrumenten in anderen Kulturen konfrontiert. Flötist*innen kennen kaum die Technik, geschweige denn den Namen der Shakuhachi; Sushi hat dagegen jeder schon einmal gekostet. Darüber hinaus ermutigen die Musikhochschulen ihre Studierenden kaum dazu, auf ihre eigene Art und Weise ihr Repertoire weiterzuentwickeln. Vielmehr werden sie dazu gedrängt, beständig an einem festgelegten und begrenzten Repertoire zu arbeiten, um sich auf verschiedene Wettbewerbe vorzubereiten: die der Hochschulen, dann die nationalen und internationalen Wett-bewerbe und schließlich die Orchestervorspiele.

Lehre und Praxis der sogenannten ‚ernsten‘ Musik werden als kulturelles Erbe angesehen und gründen sich vor allem auf Virtuosität, vertiefte Kenntnisse eines begrenzten Repertoires und die Kontinuität einer bestimmten Aufführungstradition. Jede Praxis der Differenzierung, der Öffnung schon zu Beginn der musikalischen Erziehung, des Zeitgemäßen, der Verwendung neuer Technologien oder der Infragestellung des eigenen Tuns, mithin alles, was in anderen Disziplinen als normal gilt, wird in der subventionierten Musik als ‚experimentell‘ abqualifiziert und bleibt randständig.

Sonderposition der Musik

Warum unterscheidet sich Musik so sehr von anderen Disziplinen, insbesondere von anderen künstlerischen Disziplinen? Dafür lassen sich meiner Meinung nach drei wesentliche Gründe anführen:

Der erste ist praktisch. Wie im Profi-Sport erfordert Musik eine virtuose technische Beherrschung des eigenen Instruments, die nur durch eine intensive Ausbildung bereits in jungen Jahren bei einem/r Meister*in des Faches erworben werden kann. Ohne strenge Disziplin kann weder das Instrument noch das entsprechende Repertoire richtig erlernt werden. Die erforderliche Technik zur Beherrschung dieses Repertoires erklärt auch den begrenzten Umfang des gespielten Repertoires: Nur wenige Werke vereinen sowohl handwerkliche Meisterschaft im Schreiben für die Instrumente als auch Kreativität und ästhetische Perfektion, um die strenge Auswahl der Nachwelt zu bestehen.

Diese Erklärung, die die zentripetale Natur musikalischer Disziplinen aus der zu ihrer Ausübung notwendigen Virtuosität herleitet, reicht als mögliche Ursache jedoch nicht aus: Tanz ist ebenso virtuos und doch viel offener. Darüber hinaus scheint die Bedeutung der Virtuosität in der Musik sowohl Ursache wie auch Folge ihrer Musealisierung zu sein: die Bedeutung von Virtuositätswettbewerben und die Entstehung eines Repertoires ab dem 19. Jahrhundert, in dem eben diese Virtuosität zum Ausdruck kommt, sowie der Konservatismus des Publikums förderten die Fetischisierung der Instrumentaltechnik. Mit anderen Beurteilungskriterien wäre wohl auch eine andere Kunst möglich gewesen.

Der zweite Grund ist historisch: Erst Mitte des 18. Jahrhunderts verlor die Musik in Westeuropa ihren Status als funktionale, sekundäre Kunstform. Bis dahin begleitete Musik Wörter, Feste, religiöse Rituale, Tanz oder Theater, oder diente als Hintergrund für Gelächter und Diskussionen. Reine Musikstücke dienten bis dahin allein der Lehre und Praxis der Musiker selbst. Autonome Musik als bedeutende Kunstform trat für das nicht aus Musikern gebildete Publikum in Westeuropa erst um 1750 in Erscheinung. Um diese Metamorphose zu einem Theater des auditiven Sinns ohne Sprache, visuelle Form oder Drehbuch zu vollziehen, bedurfte es der Entwicklung der entsprechenden, uns bekannten Techniken: etwa der Sonatenform, die es ermöglicht, die eigene musikalische Sprache dialektisch zu entwickeln.

Diese Veränderungen stehen sowohl in der Amateur-, als auch in der Berufspraxis symbolisch für musikalische, aber auch politische und sozio­logische Umwälzungen, darunter die allmähliche Entstehung des Berufsmusikers und des Orchesters. Diese Periode markiert auch die Entstehung des Konzepts der „E-Musik“, einer von Autor*innen geschriebenen Musik mit universellem Anspruch sowie die Gründung von Konservatorien.

Diese große Epoche der absoluten Musik, sei es in Bezug auf das Schreiben, die Kreativität, die Popularität, die Instrumentaltechnik oder die instrumentale Virtuosität, erreicht mit Beet­hoven ihren Höhepunkt. Nach dessen Tod wurde einerseits der Status der autonomen Musik neu diskutiert, ohne dabei die großen Formen zu verleugnen, und andererseits entstand das Bedürfnis, dieses Repertoire zum kulturellen Erbe zu erheben. Endlich wurde das Genre „Musik“, wenn auch techniklastig und nicht zeitgenössisch, als nicht-sekundäre Kunstform vom Publikum entdeckt.

Die meisten Institutionen für das Lernen und die Verbreitung der E-Musik verharren in der Faszination für diese 170 Jahre öffentlichen Triumphs der absoluten Musik, die sowohl elitär als auch beliebt ist. Die Instrumente, die in den Musikhochschulen unterrichtet werden, sind auch heute noch meist jene, die es erlauben, das Repertoire dieser Zeit zu spielen. Das Akkordeon, das Cembalo, die Viola da Gamba, elektronische Instrumente oder die Oud, bleiben dagegen am Rand, und die ‚alte‘ oder ‚zeitgenössische‘ Musik sowie die Musik anderer Regionen sitzen fast buchstäblich in der historischen oder geografischen Peripherie. Die große Mehrheit der subventionierten Orches­ter widmet sich dem Repertoire der glorreichen 170 Jahre. Uraufführungen werden dagegen immer seltener: Anfang des 19. Jahrhunderts machten sie den größten Teil eines Konzerts aus, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Uraufführung pro Konzert, heute sind sie eine Rarität.

Der dritte Grund für diese historistische und eurozentrische Tendenz und die Behinderung bestimmter Entwicklungen scheint mir epistemologischer Natur zu sein: Die europäische E-Musik hat, im Gegensatz zu allen anderen Künsten und aller Musik anderer Kulturen, und das seit Pythagoras, einen Sonderstatus zwischen Wissenschaft und Kunst, mit einem ausgeprägten Interesse an der Eigenlogik ihrer Sprache. Dieses Interesse wurde je nach Epoche mehr oder weniger bekräftigt und durch das Erscheinen einer autonomen und umfassenden Notation zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert, die in den anderen Künsten nicht existiert, weiter gefestigt. Die europäische Tri-Parametrisierung des musikalischen Objekts in Rhythmus, Tonhöhe und Dynamik und deren jeweilige Zerlegung in endliche Zeichensysteme zum Beispiel bleiben hochartifizielle Konstruktionen, die sowohl das Denken als auch die Wahrnehmung verengen. Die meisten anderen Musikkulturen arbeiten mit musikalischen Elementen, die wesentlich transparametrischer und flexibler sind: Klangfarbenverwandlung, „Klangschatten“, Mikrotonalität, Hinzufügung von Geräuschen, kontinuierliche Veränderungen, Komposition des Raums et cetera.

Die Zerlegung der einzelnen Parameter in ein diskretes Zeichensystem hat es der europäischen Musik ermöglicht, hochkomplexe kombinatorische Systeme (Polyphonie, Kontrapunkt, Serialität) zu entwickeln, die in anderen Musikkulturen und anderen künstlerischen Disziplinen ihresgleichen suchen. Die Schrift und ihr eigenes Alphabet erlauben diese Autonomie der Transkription, ermöglichen aber auch durch diese Grammatologien des Zeichens den Eindruck der Autonomie des Denkens. Komponist*innen wurden so ab dem 14. Jahrhundert in Westeuropa Komponist*innen von musikalischem Sinn wie auch von musikalischen Zeichen, und auch Denker*innen der musikalischen Sprache.

Und Heute?

Fast 200 Jahre nach Beethovens Tod und der Gründung der ersten Konservatorien, in einer Zeit der Globalisierung und Digitalisierung unserer Gesellschaft, haben sich die Aufgaben und die Organisation der meisten subventionierten Musikinstitutionen in mancher Hinsicht wenig verändert, trotz vereinzelter bemerkenswerter individueller und institutioneller ‚experimenteller‘ Initiativen. Die meis­ten Dispositive dieser ‚europäischen klassischen Musik‘ kanonisieren und fetischisieren weiterhin ein bestimmtes Paradigma sowie eine mit ihm korrespondierende Praxis. Daher lassen die meisten dieser Institutionen augenscheinlich weiterhin die Musikgeschichte vieler anderer Kulturen außen vor und ignorieren, dass auch diese Kulturen ihre ‚klassische‘ Musik haben. Sie verkennen, dass andere Repertoires auf der ganzen Welt ebenso komplex, transzendent, schön und universell sind und dass Komponist*innen und Theoretiker*innen ihre jeweiligen Musikgeschichten geprägt haben (Al Kindi, Zhu Zaiyu, Amir Khusrow, Matanga Muni, etc.). Wie viele Musikwissenschaftler*innen und Musiker*innen haben diese Namen schon gehört? Warum konzentriert sich der Unterricht in Musiktheorie an Konservatorien und Musikhochschulen immer noch so sehr auf die Vermittlung der europäischen tonalen Harmonielehre und des Kontrapunkts, die sicherlich notwendig sind, die aber sowohl E- als auch U-Komponist*innen heute kaum noch verwenden? In welchen subventionierten Konzertsälen kann man Interpretationen von Pansori, Kecak oder Qawwali hören, während wir es normal finden, dass europäische klassische Musik von Tokio bis Buenos Aires unterrichtet und gespielt wird? Nicht einfach, sich in Oud, Dán bau, Djembé oder Duduk zu perfektionieren, obwohl viele anerkannte Interpreten dieser Instrumente in Europa leben und dort große Gemeinschaften nordafrikanischer, vietnamesischer, malinker oder armenischer Herkunft leben? Wann werden Sinfonieorchester versuchen, ihr Repertoire zu erweitern oder sich programmatisch voneinander abzuheben?

 Der amerikanische Ideenhistoriker Mark Lilla konstruiert eine kluge Unterscheidung zwischen einem ‚Konservativen‘, der Positionen der Vergangenheit dialektisch verteidigt, und einem ‚Reaktionär‘, der sich bestimmten Fortschritten verweigert, indem er eine „Mytho-Geschichte“ als Argument konstruiert, ähnlich wie der ‚Revolutionär‘. Subventionierte Musikinstitutionen, vor allem solche, die unterrichten, haben in ihrer Zurückhaltung – sei es in Bezug auf Forschung, kritisches Denken, den Einsatz neuer Technologien, sei es in Bezug auf geschichtliche, geografische und denkmalpflegerische Offenheit – oft das Argument vorgebracht, dass die Priorität auf der Arbeit an kanonischen Werken liegen sollte, um die Studierenden auf internationale Wettbewerbe vorzubereiten und das Angebot mit den Erwartungen eines scheuen Publikums in Übereinstimmung zu bringen, das sich nur für bestimmte Werke in Bewegung setzt. Diese beiden Argumente sind nur Vorwand für eine fetischistische Reaktion auf eine vergangene Epoche.

Einerseits müssen wir akzeptieren, dass die sogenannte absolute Musik für einen großen Teil des Publikums zu einer toten Sprache geworden ist. Und dennoch oder gerade deshalb sollten sich spezialisierte Institutionen, insbesondere Bildungseinrichtungen der Aufgabe widmen, ein Kulturerbe intelligent zu verteidigen und gleichzeitig die eigenen Disziplinen immer wieder in Frage zu stellen. Andererseits ist das Argument, die zeitgenössische Musik im 20. Jahrhundert sei spätestens seit Schönberg zu radikal und entferne sich immer weiter von ihrem Publikum, nicht stichhaltig. Neu in unserer Zeit ist vor allem nicht die zeitgenössische Musik, sondern die Musealisierung vergangener E-Musik. Mit anderen Worten: Noch nie war Musik so wenig zeitgenössisch wie heute.

Der musikalische Bereich, der staatlich subventioniert ist, ist gewiss nicht rassistischer als andere Bereiche. Aber die hier dargestellten Paradigmen, Orientierungen und Fetischisierungen führen zu extrem verzerrten und hegemonialen Darstellungen der Welt. Dies wird zunehmend deutlich, denn in letzter Zeit erscheinen immer mehr kritische Zeugnisse essentialistischer, rassistischer oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Vor allem ist das beschriebene Milieu, ohne es immer zu merken, an reaktionärem Denken mitschuldig geworden. Es verteidigt ein kulturelles Erbe, das angeblich nicht diskutierbar und anderen überlegen ist. Betreten Sie irgendeine nicht-musikalische Hochschule und Sie werden schnell feststellen, dass die aktuellsten Technologien, Interdisziplinarität und Infragestellung ihrer Disziplinen, insbesondere im Spiegel ihrer Zeit (Me Too, Black Lives Matter, Intersektionalität etc.) präsent sind. Gehen Sie andererseits an eine Musikhochschule und lassen Sie sich überraschen von diesem Kokon aus spezialisierten Kursen und Studierenden, die in einer zeitlosen Atmosphäre unermüdlich an ihrem Notentext üben, auch wenn immer mehr Akteure nach Veränderung streben.

Ich habe künstlerische Leiter*innen großer Konzerthäuser gefragt, warum zeitgenössische Kunstmusik oder klassische Musik aus anderen Traditionen in ihren Programmen so wenig vertreten sind. Insbesondere gegen das Erstarken rechtsextremer Vorurteile und in der Absicht, ein Publikum unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters zu gewinnen, wäre es dringend nötig, anders zu programmieren. Diese Verantwortlichen erwiderten mir, dass ihre Programmierung nicht politisch sein dürfe (?) und dass sie die Pflicht hätten, ihr Publikum zu erhalten, weil sie ihre Säle füllen müssten. Gleichzeitig verbreiten viele große Symphonieorchester weiterhin in der ganzen Welt ihre auf einige wenige berühmte, männliche, weiße, tote und kanonisierte Komponisten beschränkten Programme wie eine frohe Botschaft. Dass sie dabei ohne jeglichen Gedanken an ihren ökologischen Fußabdruck mit 60 und mehr Musiker*innen für vier Tage nach Tokio oder Los Angeles fliegen, macht die Sache nicht besser.

Musik ist per definitionem eine lebendige Kunst, ihr Genuss kann nur im Moment ihrer Realisierung stattfinden. Musik ist auch ein Phänomen der Vermischung, denn kein Instrument, Genre, auch kein(e) Komponist*in ist ohne vielfache und manchmal zufällige Begegnungen zu dem geworden, was es, sie oder er ist. Die ‚klassische‘ und ‚romantische‘ europäische Musik, die wir alle schätzen, war zu ihrer Zeit modern. Ihr universeller Anspruch war der ihrer Zeit: eine vielleicht westliche, eurozentrische, phallozentrische, und kolonialistische, wenn nicht sogar rassistische, aber auch utopische Welt – Produkt gewagter Experimente und vielfältiger Erfahrungen. Die Welt hat sich verändert. Es ist Zeit, vielleicht auch aus Loyalität dieser damals so zeitgenössischen Musik gegenüber, dass sich Bildungs-, Produktions- und Konzertinstitutionen radikal verändern und sich unserer Zeit stellen.

Es ist an der Zeit, dass die Bundesländer und der Bund, die die großen Konzerthäuser, die großen Staatsorches­ter, die öffentlichen Sendeanstalten und die Musikhochschulen subventionieren, in diesem Sinne den Kulturauftrag klarer formulieren. Lasst uns eine weniger zentrierte Musikwelt aufbauen, ohne dabei das kulturelle Erbe zu verleugnen, indem wir uns aktiv für neue Erfahrungen und für vielfältigere geografische, historische und geschlechtsspezifische Horizonte interessieren, kritische Fragen stellen und uns vor allem auf ihre Zukunft konzentrieren.

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